GESELLSCHAFT

Nicht vergessen. Niemals.

Unser Autor hat für den Geschichtsunterricht den Geschichts-Klassiker „Die Zweite Schuld” von Ralph Giordano gelesen, der sich mit der verschwiegenen Schuld der Deutschen im Dritten Reich befasst. Geht uns dieses Thema heute noch etwas an? Ein Essay.

Für Günter Franzen wurde das Schweigen 1961 gebrochen. Franzen ist Nachkriegskind, er wurde 1947 geboren. Den Krieg hat er nicht kennengelernt, beim Wiederaufbau war er noch klein, er wuchs in der Zeit des immer stärker boomenden Wirtschaftswunders auf. Die NS-Zeit war kein Thema seiner Kindheit, seiner Jugend. Bis 1961. Da war Franzen 14 Jahre alt und sah mit seiner Klasse im Kino einen Dokumentarfilm von Erwin Leiser. Der Film hieß „Mein Kampf“ und berichtete in unscharfen und wackligen schwarz-weiß-Bildern, die an eine Handkamera erinnern, vom Weg der Nazis: von der Machtübergabe, dem Zweiten Weltkrieg, dem Völkermord an den europäischen Juden bis zum Untergang des Dritten Reiches. „Mein Kampf“ ist ehrlich, schildert das Geschehen in leicht verständlicher Sprache und zeigt Ereignisse in Bildern, die für damalige Zeit erstaunlich drastisch sind. So auch eine Mordszene, in der Kinder und Frauen erschossen werden. Nachdem Schüsse peitschen fallen ihre nackten Körper in eine hinter ihnen ausgehobene Erdkuhle. Kriegsgewalt in schrecklichster, beklemmenster Form. Der Eindruck, den der Film und die Szene auf den vierzehnjährigen Günter Franzen macht ist groß, es mischen sich Schock und Fassungslosigkeit; über die grausamen Verbrechen, die Morde und die Stadtvernichtungen, ja darüber auch. Vor allen Dingen aber über die Frage, wer diese Leute waren, die da Morde begingen, mit den Nazis mitmarschierten (und selber welche waren?) und sich euphorisch bei Hitlers Reden zeigten.

„Die Verstörung darüber, dass die Mörder Wehrmachtsuniformen trugen, also zweifellos Deutsche waren, hielt weit über den Kinobesuch hinaus an und wollte nicht vergehen, weil in meiner Umgebung niemand bereit oder fähig war, einem Vierzehnjährigen den Wahrheitsgehalt dieser ungeheuerlichen Bilder zu bestätigen“, beschreibt der heute 66-jährige seine Eindrücke nach dem Kinobesuch.

Franzens Erlebnisse sind beispielhaft für die Menschen seiner Generation, seiner Zeit. Menschen, die während des Krieges Kinder waren oder gar geboren wurden, können fast alle solche persönlichen Begegnungen mit der „zweiten Schuld“ der Deutschen berichten, diesem Nichteingeständnis der eigenen Fehler und Taten, die im Dritten Reich begangen wurden. Als es vorbei war, sprach man einfach nicht darüber; was der Vater, der Schwiegervater, der Opa im Krieg gemacht hatte, was er sah, woran er beteiligt war, blieb im Verborgenen.

Als Mensch, der in der zweiten Generation nach diesen „Schuldigen“ geboren wurde, kann man sich eine solche Art der Verdrängung kaum vorstellen, sie allein als historisches Faktum hinnehmen. Über etwas nicht zu sprechen, es nicht öffentlich zu teilen oder gerade bei so drastischen Problemen kein öffentliches Forum zu eröffnen, scheint in Zeiten von Internet, sozialen Netzwerken und Wiki-Plattformen unvorstellbar. Dass die Selbstanschuldigungen und Bekenntnisse ausblieben, verwundert vielleicht nicht einmal allzu sehr. Aber dass es in den 50er und zu Beginn der 60er Jahre keine Ankläger gab, die für eine signifikante Auseinandersetzung sorgten, wirkt heute irreal – und gibt vielleicht eine Idee davon, wie groß die ehrliche Opposition gegen die Nationalsozialisten war, die nach dem Krieg solche Anschuldigungen hätte publik machen können. Eine vernichtende Erkenntnis. Wenn es Personen in unserem Umfeld schlecht geht, bieten wir ihnen ein Gespräch an, weil wir wissen, dass es ihnen danach besser gehen könnte. Das erlebte „verarbeiten“ nennen Psychologen das. Wenn es aber allen schlechte geht (oder alle betroffen sind), bleibt niemand der zuhören könnte, der helfen kann.

Man kann den Versuch bemühen, sich eine Familie im Sommer 1945 vorzustellen, Vater, Mutter, zwei kleine Kinder. Was geht nun in dieser Familie vor, besonders bei den Eltern? Wenn sie vorher überzeugte Anhänger der Volksgemeinschaft waren, die Juden hassten und ihren Führer Adolf Hitler liebten, was taten sie nach 1945? Vermutlich sich so gut anpassen als möglich, an das neue Rollenbild, das nun von ihnen erwartet wurde, äußerlich demokratisch werden, wählen gehen, sich über den eigenen Arbeitsplatz freuen. Das hieß vor allen Dingen: schweigen. Über die Vergangenheit, die eigenen Taten, die eigenen Erlebnisse, nichts sagen dürfen, auch wenn man ununterbrochen der Meinung war, dass früher unter dem Führer eben doch alles besser war. Die Deutschen setzten ihre Masken auf und lebten mit zwei Gesichtern weiter – ein Vergleich, des Autors Ralph Giordano, der es wohl gut trifft. Die Hoffnung dieser Generation (die Hoffnung der Täter) war, dass es irgendwann schon vergessen sein würde, wenn nur niemand mehr darüber spräche. Ein dogmatisches Schweigen legte sich über Deutschland. Es wurde tatsächlich kaum gebrochen.

Günter Franzen und die Deutschen seiner Zeit standen zwanzig Jahre später vor der Frage, wie es dazu kommen konnte, dass tatsächlich Deutsche, und damit zwangsläufig auch Angehörige und Freunde, Verbrechen hatten begehen und Hitler hatten unterstützen können. Als Kinder dieser Generation mussten sie sich fragen, wie viel sie vom Gedankengut der Eltern geerbt und übernommen hatten und wie sie weiterleben konnten, zusammen mit Menschen, die einem Regime angehört hatten, dass gegen alle Normen und Werte verstieß, die sie selber ihr eigene nannten.

Sie suchten eine Auseinandersetzung. Weil sie ihre eigene Position finden mussten, das Selbstverständnis ihrer Identität als Nachkriegskinder auf dem Spiel stand. Es wurde also gesprochen, vereinzelt, und Zeitgenossen fanden auf kritische Fragen von Nahestehenden und Gesellschaft flächendeckend ähnliche Antworten um sich zu rechtfertigen. Ihr Verhalten im Dritten Reich wohlgemerkt, nicht ihr Verdrängen. In seinem Buch „Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein“ fasst der Autor Ralph Giordano diese Rechtfertigungen in acht kollektiven Affekten zusammengefasst. Sie lesen sich heute als absurde Verteidigungen der eigenen Taten und des eigenen Verhaltens. Zwischen den Zeilen auch als Verurteilung der Dinge, die nach dem Führer kamen, einige von ihnen sind schlichtweg pervers. Die Behauptung von nichts gewusst zu haben, den Völkermord zu bagatellisieren, die guten Taten Hitlers, gegen die schlechten aufwiegen zu wollen, oder gar die Forderung endlich mit der NS-Zeit abzuschließen, nicht ewig auf ihr herumzuhacken. Davon schreibt Giordano in seinem Buch. Über diese zweite Schuld. Die Verdrängung. Die Lüge.

Für Franzen hieß Auseinandersetzung nachträgliche Vergangenheitsbewältigung – also die eigene Vergangenheit zu kennen, sich mit mit ihr zu beschäftigen, sie kritisch zu reflektieren und zu hinterfragen und dadurch ein differenzierteres Bewusstsein für vergangene Ereignisse zu entwickeln. In Deutschland ist man heute gut darin, wirkt anderen Ländern geradezu als Vorbild beim Umgang mit der eigenen Historie (das entbehrt freilich nicht einem Gräuel, weil es für diese Position eine gewisse historische Basis braucht). Die Wunde in der Deutschen Geschichte verpflichtet uns indes dazu, diesen Titel zu halten. Die Erinnerungskultur gehört zu unserer Identität, ist im Idealfall ein Bedürfnis. Das kann Formen annehmen, die es sich ab und an zu hinterfragen lohnt (eine Touristengruppe in Berlin kann sich aussuchen, woran sie erinnert werden möchte und woran lieber nicht, so viele Gedenkstätten und Museen, die sich mit der NS-Zeit beschäftigen, gibt es). Insgesamt aber ist die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland heute eine Erfolgsgeschichte, wenn man sich anschaut welche Möglichkeiten den Menschen zur Information gebotn werden und wie diese Angebote frequentiert werden. Es war ein weiter weg, bis dahin. Einen der ersten Schritt auf diesem Weg machte in den sechziger Jahren das Ehepaar Margarete und Alexander Mitscherlich mit ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ und einem darin enthaltenen, gleichnamigen Essay.

Für ein erstes Grundverständnis der Verhaltensweisen der Menschen, deren „Ich“ nach 1945 zwischen Drittem Reich und junger Bundesrepublik stand analysierten sie das Deutsche Kollektiv dieser Zeit und stießen erstmals wissenschaftlich mit den Werkzeugen der Psychologie, Psychoanalyse und Soziologie auf jene schwerwiegenden Verdrängungsprozesse, die sich in den Köpfen der Menschen nach Kriegsende abspielten. Nach der Idee der Mitscherlichs habe das scheitern der Normen und Werte, die sich in der NS-Zeit etabliert hatten (zum Beispiel der Führer-Kult und die Volksgemeinschaft) und das damit einhergehende „Erwachen aus einem Rausch“ zu einer „traumatische[n] Entwertung des eigenen Ich-Ideals“ geführt. Die danach stattgefunden „Derealisierung“ in Form der Verleugnung der eigenen Vergangenheit und die Verdrängung sei eine Abwehrhaltung gegen einen Selbstrealitätsverlust gewesen und habe die eigentlich nötige Trauerarbeit ersetzt. Nur diese Verdrängung und das „Ungeschehenmachen“ habe eine Normalität im Wirtschaftswunder ermöglicht. Die Mitscherlichs attestierten „den Deutschen“ einen Realitätsverlust, eine verzerrte Wahrnehmung der Welt und der Gesellschaft, ob der sie nicht in der Lage seien, die eigenen Fehler einzugestehen. Die Gründe des Realitätsverlusts suchen sie in der ungeheuren Identifikation mit Adolf Hitler als „Führer und Erlöser“, in der das Kollektiv ganz aufgegangen und schließlich untergegangen sei.

Für Günter Franzen war es „das Buch, dass das Schweigen brach, auf das ich und die Angehörigen meiner Generation gewartet hatten“. Dieses Statement drückt ziemlich gut aus, was die Ergebnisse der Mitscherlichs damals bedeuteten: unabhängig von möglichen Kritikpunkten wie den angewandten psychoanalytischen Kategorien und Indikatoren, den wissenschaftlichen Methoden und der Deutung ihrer Ergebnisse, bot das Buch nämlich vor allen Dingen einen Anhaltspunkt, von dem aus sich eine Diskussion entwickeln konnte. Es war der Impuls, der den ersten Dominostein umstieß und dadurch einen Dialog anregte. Einen Dialog wohlgemerkt über die Schuld des Schweigens und der Verdrängung. Bis zur breiten Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sollte noch einige Zeit vergehen. Zunächst stand für die „Kinder-Generation“ die Klärung der eigenen Position, der eigenen Rolle im Vordergrund. Und hier bot die Mitscherlich-Schrift mit der Legitimation zur moralischen Anklage der Nachkriegsschuld und der Idee, dass ein eigenes „richtiges“ Verhalten die Schuld der Eltern kompensieren und dadurch freistehend machen könne, praktische Lösungsansätze. Die Aufarbeitung blieb aber auf die Kinder-Generation beschränkt. An eine Welle der Zugeständnisse oder gar der Entschuldigungen war nicht zu denken.

 

In den Folgejahren trugen vor allen Dingen Filme und Bücher dazu bei die „Aufarbeitung“ voranzutreiben. Sie erzählten von persönlichen Schicksalen verfolgter Juden in Deutschland, von Familien, Kindern, ihren Ängsten und Qualen. In einer Gesellschaft, die zuvor von wirtschaftlichem Wohlstand, der die Verdrängung stütze, und Schweigen, das keine Basis für Dialog bot, bestimmt war, blieb die Wirkung dieser Filme nicht aus. Nach und nach wurden Schuld und die aus der Schuld hervorgegangene Schuld analysiert und diskutiert. Auch weil sich mit zunehmenden Jahren ein Abstand zum Geschehen der diskutierten Zeit einstellte, die einen sachlichen Austausch möglich machten. Das dies zu spät kam, lässt sich dennoch nicht leugnen und dass die betroffenen Überlebenden ihre Schuld fast nie eingestanden haben, bleibt zu kritisieren. Uns bleibt nur es besser zu machen.

 

„Aber muss nicht tatsächlich irgendwann Schluss sein, mit der Bewältigung, mit der Schuld? Wir waren doch nicht schuldig, was konnten wir für die Verbrechen der Nazis?“ – Diese Frage stellt sich schließlich doch, drängt sich einer neuen, jungen Generation geradezu auf. Mit dem Verständnis der zweiten Schuld können wir sie beantworten, müssen ihr eine Zusage und gleichzeitig eine Absage erteilen. „Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus“ – das wissen wir von Giordano. Auf jede Schuld kann eine weitere folgen, die aus ihr hervorgegangen ist. Der moralische Vorwurf an die Täter, also die Vorwürfe der ersten Schuld, sind nicht vererblich. „ Wir waren doch nicht schuldig, was konnten wir für die Verbrechen der Nazis?“ – dem können wir also zustimmen. Wohl aber verpflichten uns die Schulden der Vergangenheit zur Aufarbeitung, zur Bewältigung und dazu, die Erinnerung lebendig zu halten. Das ist ihr Erbe. Wir dürfen im 21. Jahrhundert also nicht mit dem Vergessen beginnen. Denn dann machten wir uns selber schuldig, würden die „Dritte Schuld“ auf uns laden. Der Appell also: Nicht vergessen, niemals. Nicht aus der Angst heraus schuldig zu werden. Sondern der Erkenntnis unserer bisher betrieben Vergangenheitsbewältigung, damit wir Schrecken und Terror, wie er im Dritten Reich herrschten, nie wieder erleben müssen.

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