UNTERHALTUNG

Skandalöse ‚Körpermusik‘

Paris, 29. Mai 1913. Mit Gelächter und einem Sturm der Entrüstung verspottet die Pariser Bourgeoisie im Théâtre des Champs-Élysées die Uraufführung des Balletts „Le Sacre du Printemps“, ein Werk des Komponisten Igor Stravinsky und des Choreografen Sergei Djagilew. Mit schroffen Rhythmen, abseits der herkömmlichen Harmonie und grotesken, wilden Tanzbewegungen brechen die Künstler mit jahrhundertalten Normen und Sitten, und eröffnen der Welt bis heute unbegrenzte Horizonte von schillernden Klangfarben und urwüchsigen Kräften des körperlichen Ausdrucks.

Foto: Deutsche Grammophon, Marie Staggat
Foto: Deutsche Grammophon, Marie Staggat

Berlin, 29. September 2014. Im Apple-Store in Berlin am Kurfürstendamm stellen die weltberühmten Pianisten Alice Sarah Ott und Francesco Tristano einem neugierigen Publikum ihr erstes gemeinsames Album mit dem Namen „Scandale“ vor. Der Name ist ein Attribut an die Aufführung des „Sacre du Printemps“ vor 100 Jahren, das Herzstück dieser Aufnahme. Ihre von packendem Rhythmus und subtiler Erhabenheit geprägte Interpretation macht das Werk zeitlos, entfacht die 100 Jahre alte Energie auf ein Neues, weicht die Grenzen von Zeit und Raum auf. Die beiden Pianisten bezeichnen Stravinsky als „Körpermusik“,  zu der getanzt werden muss, und füllen mit ihrer Musik gleichzeitig den Saal der Berliner Philharmonie und den Underground-Club Boilerroom in Berlin. Wer sind diese beiden Künstler, die es schaffen, die Klassik in den Club zu bringen?

Foto: Deutsche Grammophon, Marie Staggat
Foto: Deutsche Grammophon, Marie Staggat

Alice Sara Ott betritt die Bühne. Barfuß, entspannt und bereit für einen Dialog mit ihrem Publikum. Sie möchte gemeinsam mit ihrem Publikum klassische Werke physisch erlebbar machen. „Man soll mit jeder Faser des Körpers fühlen können, wie schön, zauberhaft, grotesk, hässlich, zynisch und traurig Musik sein kann,“ meint Alice im Interview. Die 27-jährige deutsche Pianistin mit japanischen Wurzeln trat schon mit weltbekannten Orchestern wie dem London Symphony Orchestra auf, gewann zahlreiche Preise, darunter einen Echo Klassik, und führte mit ihren Alben die iTunes Klassik Charts an. Entgegen dem Wunsch der Mutter begann Alice mit vier Jahren das Klavierspielen, ein Instrument, das sie vor allem als nonverbales Kommunikationsmedium so faszinierte. Weder in Deutschland noch in Japan als Einheimische aufgenommen, gab ihr das Klavier und die Bühne eine eigene Identität, ein Ort, wo ihre Herkunft nicht hinterfragt wurde. „Für mich ist die Musik die natürlichste und ehrlichste Sprache mit dem Publikum zu kommunizieren und es setzt mir im Gegensatz zur verbalen Linguistik keine Grenzen“ betont Alice. Das Klavierspielen als Ausdruck der eigenen Identität, der tiefsten Emotionen, ein Medium, um mit dem Zuhörer einen ebenbürtigen, ungeschminkten Dialog aufzubauen. Gerade deswegen wünscht sich die Pianistin ein Publikum, das sich vollkommen wohlfühlen kann um sich ihrer Musik öffnen zu können. Nur so kann ein emotionaler Dialog zwischen Künstlerin und Publikum erschaffen werden. Das kann gleichermaßen im Frack oder in der Jeans passieren.

„Ich möchte meinem Publikum nicht vorschreiben, wie es die Musik zu genießen hat, sondern dazu auffordern, es selbst herauszufinden. Ich selbst fühle mich barfuß am wohlsten und deswegen spiele ich alle meine Konzerte ohne Schuhe.“

Alice Sara Ott hält nicht viel von den Regeln und Etiketten, die sich den letzten zwei Jahrhunderten in klassischen Konzerthäusern festgesetzt haben. Sie empfindet die verkrampfte Stille während des Konzertes und eine vorgegebene Kleiderordnung als Hindernis, sich der Musik richtig hingeben zu können. Für Alice  muss Musik bewegen, begeistern und zum Nachdenken anregen können. Alice Sara Ott gehört wohl zu den unkonventionellsten und vielversprechendsten klassischen Pianistinnen unserer Zeit. Sie entdeckt mit ihrem Publikum die klassischen Werke neu und steckt mit ihrer Emotionalität auch neue Zuhörergruppen an: Aufrichtig, ungeschminkt und mitreißend.

Foto: Deutsche Grammophon, Marie Staggat
Foto: Deutsche Grammophon, Marie Staggat

Von faszinierender Erscheinung und sympatischer Ausstrahlung ist auch Francesco Tristano, der gemeinsam mit Alice die Bühne betritt. Ein gutaussehender Mann mit wilden Locken, sinnlichen Lippen und eng geschnittener Kleidung. Er strahlt ein fast trotziges Selbstbewusstsein aus, während sich in seinen blauen Augen zugleich künstlerische Ernsthaftigkeit und Verschmitztheit wiederspiegeln. Sobald er als Pianist anfängt zu spielen, oder als DJ anfängt aufzulegen, verschmilzt Francesco Tristano mit der Musik, wird eins mit den Rhythmen und Klängen aus Piano, E-Piano oder Synthesizer. Der Pianist, Komponist und DJ fühlt sich bei Barockmusik sowie bei Techno gleichermaßen zu Hause, und scheut sich auch nicht davor beides zu kombinieren. Epochale oder stilistische Grenzen sind nach seiner Meinung in der Musik sowieso nicht vorhanden. Francesco verkörpert mit seiner Musik diese Grenzenlosigkeit, versprüht eine solche Energie und Freiheit mit der Musik, dass es für den Zuhörer plötzlich abstrus wirkt diesen Kreislauf von Rhythmen und Melodien in eine bestimmte musikwissenschaftliche Form pressen zu wollen.

„Musik ist immer da. Selbst in der Stille ist Musik“

beschreibt der 33-jährige Luxemburger, dessen Studium ihn bis an die Julliard School in New York führte. Mit 13 Jahren gab er erste Konzerte mit Eigenkompositionen, veröffentlichte schon mehr als 20 Alben und trat mit weltbekannten Orchestern auf. Ein Lebenslauf, der die Klassikwelt beeindruckt und der beste Voraussetzungen für eine Karriere als klassischer Pianist lieferte. Trotz alledem wählte Francesco den „Stravinsky-Weg“, experimentiert, provoziert mit seiner Musik, bricht mit allen Normen und lehnt es ab sich an Regeln zu halten. Ein Pianist, der gleichzeitig für empörte Aufschreie und große Bewunderung in der Klassik- und Technowelt sorgt. Francesco holt Menschen in Konzertsäle, die noch nie was mit Klassik anfangen konnten, und begeistert Klassikfans für seine elektronischen Experimente, die von musikalischer Souveränität geprägt sind. Er erklärt eine Grenzenlosigkeit der Musik und bringt so Menschen zusammen, die sich sonst aus dem Weg gehen. Diese Freiheit, die sich der Pianist nimmt, stößt nicht immer auf Zustimmung, doch Unsicherheit gehört für ihn zu jedem Auftritt dazu:

„Die Bühne steht für Freiheit und Überraschung“

Sagt der Künstler, der neues wagt, provoziert und begeistert, der Grenzen aufweicht und neu verknüpft.

Alice Sara Ott und Francesco Tristano – Ein Duo, das jugendhafte Unschuld gleichzeitig mit fesselnder Entschlossenheit ausstrahlt, das sich gegenseitig beibringt zu grooven und zu walzen. Für Alice und Francesco liegt die Schönheit der Musik nicht in Harmonie und Gleichmäßigkeit, sondern in ihrer Gänze und unmaskierten Ehrlichkeit. Ihr Spiel ist geprägt von Reibung und Verschmelzung, geleitet von innigsten Emotionen. Was sie mit Igor Stravinsky verbindet, ist vor allem eins: Die Musik als grenzenlose Freiheit wahrzunehmen.

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Foto: Stinghe & Park Bennett

In einer Musikhandlung in Berlin: Das Metronom schlägt. Daniel, ein gutaussehender, junger Mann mit Dreitagebart schnappt sich kurzerhand einen Lederhocker und stellt ihn neben das Klavier, an dem Paul, ein studierter Komponist, eine kurze, spritzige Melodieabfolge spielt. Der Lederhocker dient als Drum, von dem jetzt ein rhythmischer Beat zu hören ist. Einen Gegenpart zum Klavier erklingt aus der Gitarre, mit der Jan zu den beiden Musikern dazu stößt. Ganz ohne Computer oder Synthesizer entlocken die drei Musiker zwischen allerlei Musikzubehör dem Lederhocker, Klavier und der Gitarre eine Musik, die den Körper nur dazu auffordert dem Rhythmus zu folgen und loszutanzen.

Die drei Musiker, Daniel Brandt, Jan Brauer und Paul Frick mischen im Moment als BrandtBrauerFrick die Musikszene in Clubs und Konzertsälen weltweit auf, mit einer Musik, die wie eine Mischung aus minimal Techno und minimal music klingt. Anstatt jedoch Rhythmen und Töne elektronisch herzustellen, stammt die Musik aus der „realen Welt“, seien es klassische Instrumente, die menschliche Stimme, oder was einem so in die Hände fällt, wie etwa einen Lederhocker. Gerade weil elektronischen Musik heute oft „klinisch“ am Computer produziert wird und dem Ensemble daher zu künstlich klingt, suchen sie nach einem Sound der „rough“ und „dreckig“ klingt, der irgendwo in der Realität schon mal unterwegs war und nicht nur dem Computer entspringt. Dabei werden die Beats nicht vorher komponiert, sondern entstehen in einer Jamsession, in der mit allen möglichen Sounds dieser Welt gespielt wird:

„Wir probieren uns ein wenig aus und warten auf den Moment, dass sozusagen etwas Besonderes passiert.“ So halten sie nicht viel von einer Kategorisierung der Musik, suchen nicht die Anerkennung als Hochkultur: „Intellektuelle Konzepte gibt es natürlich auch bei uns. Aber die muss man auch wieder vergessen, wenn man Musik macht. Das muss intuitiv sein.“ Da scheint die von ihnen selbst gewählte Bezeichnung „emotionale Körpermusik“ genau zu passen. Aber die Begeisterung für Techno wurde nicht allen dreien in die Wiege gelegt. Paul Frick studierte acht Jahre Komposition, bevor er die Einfachheit des Techno akzeptieren konnte, da er bis zu dem Zeitpunkt hauptsächlich an komplizierter, komplexer Musik interessiert war. 2008 stieß der Komponist, der inzwischen auch Housetracks komponierte, dann im Internet auf Musik von Daniel Brandt und Jan Brauer, die unter dem Namen Scott von Jazz beeinflusstem Techno machten. Seit dem füllen sie mit ihrer emotionalen Körpermusik um 20 Uhr den Konzertsaal und nachts den Technoclub. Der Unterschied:

„Im Club ballern wir richtig durch und im Konzertsaal gehen wir es etwas leise an. Aber egal wo, man spürt, dass das Publikum Bock drauf hat!“,

so Jan Braue im Interview mit Simone Krakau. Gegensätze aufeinander loslassen und Grenzen verwischen ist schon lange ihr Markenzeichen geworden und öffnet den jungen Künstlern die Türen zu den großen Konzertsälen und Clubs dieser Welt. Sie schaffen es, dem maschinellen Techno durch ihre Authentizität menschlich werden zu lassen und kreieren so eine Musik, die natürlich und authentisch klingt. BrandtBrauerFrick sind Künstler, die trotz ihres Erfolgs auf dem Boden geblieben sind, die einfach nur die Musik sprechen lassen. Das Ergebnis sind weltweiter Erfolg und eine Musik, bei der keiner stillsitzen kann.

Mehr in den Interviews mit: Alice, Francesco und Jan Brauer

ClubbingClassicMusikfestival

Klassik und „emotionale Körpermusik“ – das passt und gehört zusammen!

Insbesondere, wenn man solche Weltstars der Klassik- und Clubszene an einem Abend gemeinsam auf einer Bühne erleben darf.

Der ClubbingClassic Festivalabend am 26. September 2015 gehört aber nicht nur den „Jungen Wilden“. Das Programm wird Klassikliebhaber als auch Clubgänger ansprechen und zeigen, dass man Musik in seiner Gänze neu entdecken und erleben kann. Dabei bleiben Tradition und Konvention eines klassischen Konzertes vor der Tür. Es wird ein Abend in drei Teilen sein, von einem klassischen Piano Duo bis zur Party mit DJ.

Die beiden jungen Starpianisten Alice Sara Ott und Francesco Tristano eröffnen mit ihrem Programm „Scandale“ den ersten Akt des außergewöhnlichen Konzertabends. Mit Werken von Debussy, Strawinsky und Ravel spielen sie „alte Meister“ in einem jungen Stil. Zudem steht „A soft shell Groove Suite“ auf dem Programm, das von dem 34-jährigen Pianisten Francesco Tristano selbst komponiert wurde. Ein sehr rhythmische und dynamische Komposition, die die „klassische Musik“ auf eine moderne Ebene hebt. Ein Erlebnis wird zudem die von Tristano arrangierte Pianoversion des „Bolero“ sein.

Nach einem spannenden Aufschlag im Avantgarde wird das in Berlin beheimatete Trio Brandt Brauer Frick, die als „Technoprojekt“ nahezu ausschließlich mit klassischen Instrumenten arbeiten mit Innovation, Techno und Elektronik die Bühne übernehmen. Der Groove von Brandt Brauer Frick ist ‚Neue Musik‘ mit intellektuellem Anspruch. Dabei ist für das Trio elektronische Musik kein Stil oder musikalisches Genre, sondern einfach nur eine technische Abgrenzung. Das Techno-Klassik-Projekt Brandt Brauer Frick stehen für die vielleicht aufregendste Verbindung von klassischem Instrumentarium und Clubmusik und agiert damit weltweit in den unterschiedlichsten Szenen.

Der Pianist und Produzent Francesco Tristano zeigt im dritten Act des Konzertabends mit einem DJ-Live-Set am Klavier und an den Keyboards, wie Klavier- und Clubmusik zusammenpassen und zusammengehören.

Den Rest der Nacht übernehmen DJs mit Unterstützung der Kunstgeschwister im Raum 38 für eine Party ohne Grenzen. Vor allem ohne Genre Grenzen.

Tickets ab 10,- Euro auf : clubbingclassic.de/tickets

Ganz spannend auch das Gespräch im Kulturpalast mit Nina Sonnenberg und Tristano auf 3sat

Zur Autorin:

Laura Gerards Iglesias ist 1994 in Mönchengladbach geboren und hat bereits mit 6 Jahren begonnen, Geige zu spielen. Musik spielt für sie bis heute eine entscheidende Rolle in ihrem Leben. So kann sie auf herausragende Konzertreisen und Soloauftritte mit Orchestern und Ensembles der Musikschule Mönchengladbach und der bischöflichen Marienschule zurückblicken, wo sie 2013 das Abitur machte. Während eines Journalismus-Projektes im Rahmen ihrer ‚European Studies’ in Maastricht entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Schreiben. Als Mitarbeiterin im ClubbingClassic Festivalteam ist sie u.a. für die redaktionellen Beiräge und Interviews mit den Künstlern verantwortlich und übernimmt die Co-Moderation der Talkrunde und des Festivalabends.

 

 

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