Die Standpunkt-Redakteurinnen Ida und Sofija haben Erfahrungen deutscher Austauschschüler:innen und Au-pairs aus den USA zusammen getragen – und dabei erlebt, was der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen als eine Gesellschaft beschreibt, in der man lieber höflich schweigt als offen diskutiert. Der Bericht zeigt, wie das Schweigen über Politik dort zum Alltag geworden ist – und warum das mehr über unsere Gegenwart verrät, als man denkt.
Das Land der unbegrenzten Meinungsfreiheit wirkt plötzlich still. Austauschschüler:innen und Au-pairs erzählen, wie in Familien, Cafés und Klassenzimmern kaum noch über Politik gesprochen wird. Während in Washington der politische Ton immer schärfer wird, erlebt eine Generation junger Deutscher vor Ort das Gegenteil: Stille. In Familien, Schulen und im Freundeskreis wird Politik ausgeklammert – aus Angst vor Konflikten, aus Gewohnheit oder Bequemlichkeit. Während sich online die Lager anschreien, bleibt das echte Leben erstaunlich unpolitisch – und genau das macht vielen Sorgen. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sieht darin kein Zufall, sondern ein Symptom unserer Zeit – und erklärt, warum Reden wieder zur Mutprobe geworden ist.
Warum in den USA kaum noch über Politik gesprochen wird – und was das über uns alle verrät
Dieses Schweigen ist kein Zufall – es ist Teil einer größeren Entwicklung, sagt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Podcast „In aller Ruhe“ mit Carolin Emcke. Er nennt das, was in den sozialen Medien passiert, ein „Trainingslager der mentalen Verwahrlosung“ – also Orte, an denen wir verlernen, respektvoll zu diskutieren. Online wird gebrüllt, im echten Leben geschwiegen. Pörksen meint: Wenn man in den sozialen Netzwerken ständig erlebt, dass jede Meinung sofort angegriffen wird, zieht man sich irgendwann zurück. Man will keinen Ärger, keinen Shitstorm oder Konsequenzen erfahren – und schweigt lieber. Das gilt besonders in den USA, wo politische Lager kaum noch miteinander sprechen.
Alltag ohne Ecken und Kanten
„Über Politik reden wir lieber nicht.“ Diesen Satz hören viele junge Menschen, die gerade als Au-pairs oder Austauschschüler:innen in den USA leben. Beim Frühstück mit der Gastfamilie, im Schulbus oder auf Partys: Sobald das Gespräch in Richtung Politik geht, wird es still. Dann wechselt jemand das Thema – meistens schnell und höflich.
Das spiegelt sich auch im Alltag eines Au-pairs in New York wider. Fabienne hat für unsere Redaktion ein kleines Fototagebuch zusammengestellt. Ihre Bilder und auch Ihr Instagram Account zeigen einen sorgfältig strukturierten Alltag in einer gut etablierten Familie in New York. Morgens beginnen die Tage in hellen, stilvollen Räumen, gefolgt von liebevoll zubereiteten Frühstücksboxen für die Kinder. Kleine Rituale ziehen sich durch den Tag: kurze Spaziergänge durch die Nachbarschaft, Momente für den eigenen Kaffee oder Matcha, Sport auf dem Laufband, bevor die Kinder abgeholt werden. Nachmittags stehen gemeinsames Spielen, Scooterfahren und kreatives Malen auf dem Programm. Abends endet der Tag entspannt.
Es scheint so, dass das Leben dort sehr auf die eigene Familie fokussiert ist und Politik einfach draußen bleibt. Das klingt unbeschwert – und ist es auch. Aber es zeigt, wie sehr sich die gesellschaftliche Stimmung in den privaten Raum zurückgezogen hat. Während das Land über Machtfragen, Wahlgesetze und Pressefreiheit diskutiert, scheint das Leben im Privaten einfach weiterzugehen. Ruhig, effizient, unpolitisch.
Harmonie und Struktur bestimmen auch den Alltag von Lena, die derzeit als Au-pair in North Carolina arbeitet und der Redaktion eine Fotodoku über ihren Familienalltag geschickt hat.
Auch Emil, 14 Jahre und Austauschschüler in Michigan, kommt mit politischen Themen nicht in Berührung. Er erlebt viele Unterschiede und schreibt darüber mit seinem Freund:
„Man spricht hier sehr wenig über Politik und in meiner Austauschfamilie habe ich kein einziges Mal eine Nachrichtensendung gesehen“, schreibt er. „noch nicht einmal vom Nationalgarde-Einsatz in Chicago habe ich etwas mitbekommen.“
Smalltalk statt Streit
„Niemand will sich hier wegen Politik streiten – Alle wissen, wer auf welcher Seite steht. Aber im Familien- oder Freundeskreis spricht man lieber nicht darüber, um den Frieden zu bewahren.“
Eine deutsche Austauschschülerin, die mit den Standpunkt-Redakteurinnen gesprochen hat – namentlich jedoch nicht erwähnt werden möchte, erlebt in ihrer Gastfamilie und an ihrer High School ein ähnliches Schweigen. „Politik ist in meiner Gastfamilie eigentlich kein Thema“, erzählt sie. „Es wurde nur ganz kurz über den Vorfall mit Charlie Kirk gesprochen – und das war’s dann auch schon.“ An ihrer Schule ist es ähnlich: „In der Schule wird eigentlich nie über Politik gesprochen“, berichtet sie. Zwar gebe es einige Schüler:innen, die offen ihre Unterstützung für Donald Trump zeigen, doch Diskussionen oder Streit seien selten.
„Es gibt Trump-Unterstützer, ja, aber niemand streitet sich darüber. Es ist einfach kein großes Thema.“
Sie beschreibt die Stimmung als ruhig, respektvoll – aber auch auffallend distanziert. „Ich denke, es hängt sehr von der Schule und der Umgebung ab. Manche Schulen sind sicher politischer – hier ist es einfach kein großes Thema.“ An ihrer Schule jedenfalls bleibt die Debatte leise – und das scheint den meisten ganz recht zu sein.
Leise offline – laut online
In einem Land, das sich die Meinungsfreiheit groß auf die Fahne schreibt, ist das offene Gespräch gerade schwierig. In Kommentarspalten und Feeds geht es dafür um so lauter zu und nicht mehr darum, Argumente auszutauschen, sondern darum, Recht zu behalten. Aufmerksamkeit zählt mehr als Nachdenken. Und das bleibt nicht ohne Folgen: Wer online ständig erlebt, dass jede Meinung sofort zerrissen wird, hält sich im echten Leben lieber zurück.
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat für dieses Phänomen ein ziemlich treffendes Bild gefunden: Er nennt die sozialen Medien ein „Trainingslager der mentalen Verwahrlosung“. Damit meint er: Wir gewöhnen uns daran, uns gegenseitig anzuschreien, statt zuzuhören.
Pörksen sagt, viele Menschen verstecken sich heute hinter der Idee von Freiheit. Sie sagen: „Ich darf doch wohl meine Meinung haben!“ – und meinen damit oft: „Ich will mich mit anderen Meinungen gar nicht mehr auseinandersetzen.“ So wird Meinungsfreiheit manchmal zu einer Ausrede, um nicht mehr zuzuhören. Das passiert online genauso wie am Esstisch. Und je öfter wir das tun, desto kleiner wird der Raum, in dem echte Gespräche möglich sind.
Pörksen hat einen Vorschlag, wie man damit umgehen könnte. Er nennt es die Idee einer „redaktionellen Gesellschaft“. Klingt kompliziert, ist aber simpel: Wir alle sollten lernen, mit Informationen so umzugehen wie gute Journalist:innen – also prüfen, was wir lesen, nachfragen, wenn etwas unklar ist, und anderen zuhören, auch wenn sie anders denken. Es geht nicht darum, ständig zu diskutieren, sondern darum, wieder ins Gespräch zu kommen und sich respektvoll auszutauschen.




































