Alis moderner Wanderer und die Suche nach Rückzugsorten“
Wajid Ali Abdul hat sich vom berühmten Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich inspirieren lassen – ein Bild, das wahrscheinlich jeder schon einmal gesehen hat. Es zeigt einen Mann, der auf einem Felsen steht und in eine nebelige, unberührte Natur schaut. Damals, im Jahr 1818, spiegelte das Werk die romantische Sehnsucht nach der Schönheit der Natur wider. Es gilt als Symbol für die Suche nach Erhabenheit und innerer Ruhe.
Ali fragte sich, wie dieses Motiv heute aussehen könnte, und suchte dafür in seiner Stadt einen Ort, der für ihn ähnliche Gefühle auslöst. Statt in die Natur führte ihn seine Suche jedoch in eine Industrielandschaft: Güterzüge, verfallene Werkshallen, dunkler Himmel, der von Straßenlaternen beleuchtet wird. Der Wanderer in seiner Nachstellung steht zwar noch immer auf einem Felsen, doch die Umgebung ist eine ganz andere.
Für Ali ist dieser Ort ein wichtiger Rückzugsraum gewesen. Er beschreibt ihn als zentral gelegen und trotzdem ruhig, ein Ort, an dem er mit seinen Freunden dem Trubel der Stadt entkommen und in Ruhe reden kann.
Im Gegensatz zu Friedrichs romantischer Natur zeigt Alis Fotografie, wie Industrie und Urbanität heute solche Rückzugsorte prägen. Dennoch hat dieser Ort für ihn eine ähnlich bedeutende Rolle wie die Natur für die Menschen zu Friedrichs Zeiten: Er ist ein Platz, um zur Ruhe zu kommen und sich mit wichtigen Fragen auseinanderzusetzen.
„Dieser Ort war für uns immer etwas Besonderes – unsere kleine Oase nach der Schule. Einfach wir, die Natur und ein bisschen Abstand von allem. Aber als ich das Foto gemacht habe, dachte ich mir: Warte mal, der Ort ist gar nicht so perfekt, wie wir ihn immer gesehen haben. Klar, das ist unser Rückzugsort, aber irgendwie auch eine Einöde – wie ’ne Flasche, die nur darauf wartet, von uns oder der Welt ausgenutzt zu werden. Schau dich mal um: Da vorne in der Ferne sind der Bahnhof und die Industrie, hinter uns die Häuser und Läden. Es ist eigentlich nur ’ne Frage der Zeit, bis auch das hier weg ist,“ vermutet Ali. Daraufhin meinte sein Freund Bilal Moas, es sei falsch, diesen Ort so darzustellen, wie er auf dem original Werk. „Warte lieber, bis es dunkel wird,“ sagte er, „dann zeigen sich die Schattenseiten der Welt viel klarer.“ Wer weiß schon, ob das Gebirge im Gemälde von Caspar David Friedrich noch heute bestehen würde oder ob es nicht schon längst den Erdboden gleichgemacht worden wäre.