Musterland

STORIES FROM FLUTER* – Jeden Monat einen Original-Text aus dem „Fluter

Deutschland diskutiert, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Schweden hat das schon getan – und zwar für Männer und Frauen. Alice Westlund ist eine von ihnen. Auf die Frage, wie motiviert sie sei, den Dienst anzutreten, kreuzte sie an: neun von neun

Von Manuel Rauch

Minusgrade. Alice Westlund liegt im Januar 2025 in ihrem Schlafsack – irgendwo im Wald bei Östersund in Mittelschweden. Es ist drei Uhr nachts, doch sie muss raus in die Kälte. Sie ist für die nächste Patrouille eingeteilt, um das Lager ihrer Einheit zu sichern. 

„Das kann hart sein. Aber es geht darum, dafür zu sorgen, dass es meinen Kamerad:innen gut geht, und die würden das Gleiche für mich machen. Das hat mich motiviert.“ 

Heute sitzt Alice, 19 Jahre, in einem warmen Stockholmer Büro und erinnert sich an diesen vergangenen Winter bei den Feldjäger:innen, einer Gruppe innerhalb der Försvarsmakten, dem schwedischen Pendant zur Bundeswehr. Ihre Ausbildung im Rahmen der Wehrpflicht hat sie vor zwei Monaten abgeschlossen. Nun ist sie Vorsitzende im nationalen Pliktrådet – einem fünfköpfigen Gremium, das die Interessen der Wehrpflichtigen gegenüber der Armee vertritt. 

Vor ihrem 18. Geburtstag bekam Alice wie alle gleichaltrigen Schwed:innen Post von der Musterungsbehörde. Wer volljährig wird, ist verpflichtet, rund 40 Fragen zu seiner Gesundheit, Schulbildung und Persönlichkeit zu beantworten: Wie viel Alkohol trinkst du regelmäßig? Wie oft machst du Sport? Was sind deine Noten? Auf einer Skala von eins bis neun sollte Alice auch angeben, wie motiviert sie für den Wehrdienst ist. „Ich wollte mich selbst herausfordern“, erklärt sie. „Die Weltlage ist gerade nicht die beste, ich wollte etwas verändern.“ Eine Neun also.

2025 wurde etwa jede:r Vierte eines Jahrgangs zur Musterung eingeladen. Aber nicht alle, die geeignet wären, werden tatsächlich einberufen. „Wir versuchen, so gut es geht, diejenigen auszuwählen, die motiviert sind“, erklärt der Sprecher der Musterungsbehörde, Per Andersen Helseth. 

Als Alice zur Musterung antrat, stieg ihr der Puls. „Ich war nervös, dass ich es nicht schaffe.“ Zwei Tage lang absolvierte sie in einer spezialisierten Prüfstelle unterschiedliche Prüfungen, wurde auf Fitness, Kraft, Gesundheit und Intelligenz getestet. Eine Psychologin beurteilte außerdem ihre psychische Belastbarkeit. Wer alle Prüfungen besteht, wird einer Position innerhalb der Försvarsmakten zugeordnet und ist verpflichtet, zur rund einjährigen Ausbildung anzutreten. Bezahlung: rund 400 Euro im Monat und eine einmalige Ausbildungsprämie, hinzu kommen kostenlose Unterkunft, Verpflegung und weitere Leistungen. Im kommenden Herbst werden es rund 8.000 junge Schwed:innen sein. Bis zum Jahr 2032 soll die Zahl auf 12.000 pro Jahr erhöht werden – stufenweise, damit die Streitkräfte mit Ausbildungspersonal und Material Schritt halten können. Mittlerweile hat Alice Westlund den Außendienst bei den Feldjägern gegen einen Bürojob im Gremium getauscht. Doch sie arbeitet weiter für die schwedischen Bundeswehr.

Alice bekam die Zusage und wurde bei den Feldjägern als Gruppenführerin eingeteilt. In dieser Rolle musste sie vor allem gleichaltrigen Männern Befehle geben. Derzeit sind etwa 21 Prozent der Freiwilligen Frauen. „Alle tragen die gleichen Waffen und die gleich schweren Rucksäcke“, sagt Alice. In den vergangenen Jahren gab es viel Kritik, da die Ausrüstung vor allem auf Männer zugeschnitten ist. Für Frauen bedeutet das oft: zu große Helme, zu enge Unterhosen, zu wenige BHs. Deshalb wird die Ausrüstung gerade angepasst. 

Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Europa aufgerüttelt. Auch in Deutschland diskutieren Politiker:innen seither über eine Wiederaufnahme der Wehrpflicht, um den Personalmangel bei der Bundeswehr zu beheben. Die Bundesregierung hat im August 2025 eine Gesetzentwurf vorgelegt, der vorsieht, dass junge Menschen sich dazu freiwillig entscheiden. Verteidigungsminister Boris Pistorius hat jedoch mehrfach betont, er könne sich eine Wehrpflicht nach schwedischem Vorbild vorstellen.

Auch Schweden hatte die Wehrpflicht eigentlich im Jahr 2010 – schon ein Jahr vor Deutschland – ausgesetzt. Das Militär hoffte damals auf Freiwillige. Doch es meldeten sich zu wenige. 2017 wurde die Wehrpflicht wieder eingeführt – diesmal für Männer und Frauen.

In Schweden scheint das Modell in der Bevölkerung und bei allen großen Parteien einen Rückhalt zu haben. Die Hälfte aller befragten 17-Jährigen steht laut einer Umfrage der Musterungsbehörde aus dem Jahr 2024 einer Einberufung positiv gegenüber. 

Doch es gibt auch Kritik am Wehrpflicht-Modell. Die Friedensorganisation Svenska Freds sagt, die Wehrpflicht schränke die individuelle Freiheit von jungen Menschen ein. Im vergangenen Jahr kritisierte die Organisation, dass mehrere junge Menschen den Wehrdienst gegen ihren Willen beginnen würden. Immer wieder melden sich Wehrpflichtige bei ihr, die sich schlecht fühlen, weil sie etwa Waffen tragen müssen. Durch Schwedens Eintritt in die NATO sehen sie außerdem die Gefahr, dass Wehrpflichtige in andere Länder geschickt werden könnten, um zu kämpfen.

Alice jedenfalls schaut zufrieden auf ihren Wehrdienst zurück. Sie schätzt die Gemeinschaft, man sei nie allein. Jetzt will sie studieren und dann als Juristin für die Streitkräfte arbeiten. Nach Abschluss der Ausbildung ist sie für mindestens acht Jahre wehrpflichtig und kann im Kriegsfall eingezogen werden. Auf die Frage, ob sie bereit wäre, ihr Land zu verteidigen, antwortet die 19-Jährige, ohne zu zögern: „Absolut! Ich habe so viel von diesem Land bekommen. Dann möchte ich auch etwas zurückgeben können.“ Die Neun steht, immer noch.

*In Kooperation mit Fluter. Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE

Mehr zum Pro und Contra zur Einführung der Wehrpflicht von Marya und Quang aus dem Fluter-Beitrag – Diskutiert mit uns darüber und schreibt uns redaktion@standpunktonline.com