In Zeiten eines baldigen US-Präsidenten Donald Trump, eines Ausstieges Großbritanniens aus der EU – dem „Brexit“ – und des weiteren Aufstieges unheimlicher Geister in aller Welt kann einem schon flau im Magen werden.
Auch beim Journalistentag 2016 des Deutschen Journalisten Verbandes (DJV) NRW im Duisburger Landschaftspark Nord herrschte dieser Tenor: Der Vorsitzende Frank Stach eröffnete die Tagung mit der Frage, was denn vom Jahr 2016 bleibe. Die Antwort lieferte er gleich mit: „Nur zwei Worte: Trump und Brexit.“ Michael Wegener, Chef der Content-Verifikation von ARD-aktuell setzte einen drauf und brachte es auf den Punkt: „Wir leben im postfaktischen Zeitalter.“ Da ist er, dieser Begriff, der jüngst vom Oxford Dictionary zum Wort des Jahres gekürt wurde. Post- truth.
Der Begriff ist keinesfalls neu, ihn gibt es mindestens seit Anfang des Jahrtausends: Der US-amerikanische Schriftsteller und Autor Ralph Keyes prägte den Ausdruck „post-truth“ in seinem 2004 erschienen Buch The Post-Truth Era: Dishonesty and Deception in Contemporary Life (dt.: „Die postfaktische Ära: Unehrlichkeit und Täuschung im heutigen Leben“). Keyes beschreibt darin, wie sich Lügen, Täuschung und die Dehnung der Wahrheit für die eignen Zwecke im privaten und politischen Leben auf die subjektive Wahrnehmung der Welt des einzelnen auswirken und was dieser Langzeiteffekt mit uns ganz persönlich macht. Als politisch größtes Beispiel zieht Keyes aufgrund der zeitlichen Nähe logischerweise den Irak-Krieg heran („We found those weapons of mass destruction.“)
Postfaktisch bezeichnet einen Zustand oder eine Situation, in der subjektive, emotionale Erfahrungen und Eindrücke als gewichtiger und authentischer erachtet werden als objektive Faktendarstellung. Nikolaus von der Decken, Chefredakteur der Burda-Journalistenschule, stellt fest, dass derzeit viele Menschen, besonders in den Aus- und Nachwirkungen der US-Wahl und des Brexit, Schlagzeilen auf Facebook mehr Glauben schenken als den klassischen Medien. Es würden kaum oder gar keine ganzen Artikel mehr gelesen, um sich grundlegend über ein Thema zu informieren. „Es genügt ein Blick auf die Timeline der Freunde oder Nachbarn und schon ist die Sache klar.“ Eine richtige Feststellung, hinter der noch mehr steckt.
Donald Trump hat selbst zugegeben, dass Soziale Medien, insbesondere Facebook und Twitter, der Schlüssel zu seinem Wahlerfolg waren. Wir wissen aber auch, dass Trumps Verhältnis zur Wahrheit im Allgemeinen ein eher streitbares ist. Bei ihm ist die Schwierigkeit, jetzt wo er Präsident wird, dass seine Tweets und Posts automatisch zur Nachricht werden, ob mit oder ohne gründlichen Faktencheck. Aufmerksamkeit scheint in diesen Zeiten die klingende Münze zu sein, die die Wahrheit selbstbewusst überrollt.
Trump machte Stephen Bannon, den ehemaligen Chefredakteur des rechtspopulistischen Online-Nachrichtenportals Breitbart News, zu seinem
Chefstrategen im Weißen Haus. Das Medium hatte sich in den letzten Wochen des Wahlkampfes entschieden auf die Seite des Milliardärs gestellt und dessen Inhalte verbreitet. Auch unterstützt das Portal rechtsextreme Politiker wie Marine Le Pen, Nigel Farage oder Geert Wilders. Bei „Breitbart“ lesen sich eben auch Schlagzeilen wie „Empfängnisverhütung macht Dich zur Schlampe“. Ab Januar berät also ein nationalkonservativer Rechtspopulist den Mächtigsten Mann der Welt. Trump wird ihm wohl mehr Gehör schenken als seinen übrigen politischen Beratern, denn: Bannon leitete auch Trumps Wahlkampf
Die ‚postfaktische Gefühlslage‘ ist das Ergebnis einer langen Vertrauenskrise in „die Medien“. Es geht mittlerweile nicht nur mehr um bloße Fakten; es findet eine Mischung aus eignen Eindrücken statt, die Welt zu sehen, gepaart mit ein paar Halbwahrheiten oder „Fake News“, die scheinbar ein komplettes Bild ergeben. Viele Menschen haben das grundsätzliche Vertrauen in die klassischen Medien verloren, besonders in den USA. Dort haben TV-Sender wie Fox News oder CNN politische Adern, eine einordbare politische Färbung. Das ist ein offenes Geheimnis. Fox gilt als konservativ und Republikaner-nah, CNN eher als linksliberal und Demokraten-geprägt. Der Prozess des Verlustes des Vertrauens der Bürger in diese Art der Medien ist kein Produkt des sehr polarisierenden Wahlkampfes zwischen Clinton und Trump, nein, er beginnt viel früher.
Als die USA unter Präsident George W. Bush entgegen jeder internationalen Spielregeln und Ethik 2003 den Irak angriffen und für ein Jahrzehnt besetzen sollten, entledigten sich viele US-amerikanische Medien und Journalisten jeglicher journalistisch-ethischer Grundsätze: Wer nicht auf der Welle der patriotischen Vaterlandsverteidigung mit schwamm, ging unter. Soll heißen: Die großen Meinungsbilder des Landes beteiligten sich an einem noch nie da gewesenen Propagandafeldzug, indem sie entweder die Informationen der Regierung unkritisch weitervermittelten oder selbst welche erzeugten, indem sie sich als „embedded journalists“, also die Soldaten begleitenden Berichterstatter einsetzen ließen und die Kriegsberichterstattung als objektive Darstellung verkauften. Wer da nicht mitspielte, galt als Verräter oder mindestens als unpatriotisch. Die Medien waren da schon mit den Konsumenten in der Vertrauenskrise, doch dieses Verhalten katapultierte die weitere Entwicklung dieses Prozesses enorm nach vorn und fand letztlich den Höhepunkt in Brexit und Trump.
In diesen Zeiten kämpfen nicht nur Journalisten um Glaubwürdigkeit (die eine Seite spricht da gern von „ihr da“ und „eurer Wahrheit“), sondern auch die Redaktionen regionalen- und überregionalen Blättern ums Überleben. Wie kann man dem entgegensteuern? „Wagt mehr Journalismus“, lautete einer der Sätze von Frank Stach beim Journalistentag. „Schickt wieder Reporter raus“; ganz getreu dem Motto des SPIEGEL-Gründers Rudolf Augstein: Sagt (wieder), was ist – statt die Welt aus eurer Glaskugel heraus zu erklären. Das wäre ein Ansatz. Der andere ist Resignation. Bei diesen Optionen sollte die Entscheidung nicht allzu schwer fallen.