Der Ausbruch der Corona-Pandemie hat Gesellschaften in aller Welt vor enorme wirtschaftliche und soziale Herausforderungen gestellt. Jeder ist von dieser Pandemie betroffen, ob jung oder alt, ob reich oder arm und gleich jeder Nationalität. Das war zu Beginn der weltweiten Pandemie der oft zu hörende Tenor im öffentlichen Diskurs. Doch stimmt das? Wir sammeln Eindrücke nach den ersten Monaten in einer neuen Normalität.
These 1: Die Pandemie macht die Gesellschaft sozial gerechter, weil jeder betroffen ist.
Das stimmt nur bedingt. Es ist richtig, dass das Virus grundsätzlich jeden treffen kann und die vom Staat getroffenen Maßnahmen durch jeden einzuhalten sind. Dennoch zeigte sich relativ früh, dass die Folgen der Pandemie deutlich ungleicher verteilt sind als man annehmen könnte. Dies beginnt bereits bei der Tatsache, dass bestimmte Risikogruppen wie Vorerkrankte oder Ältere vor den gesundheitlichen Folgen einer Infektion weniger stark geschützt sind. Gleichzeitig stellte sich heraus, dass Menschen mit einem geringeren sozialen Status und eher schlechter Absicherung nicht nur von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie härter getroffen werden, sondern auch ein höheres Risiko aufweisen, an einer Corona-Infektion zu erkranken. Dies hängt laut dem Soziologen Jan Paul Heisig besonders mit den schlechteren Lebensbedingungen von Menschen mit einem niedrigen sozialen Status zusammen. Menschen mit niedrigeren Bildungschancen und einer schlechteren sozialen Lage arbeiten demnach öfter auch in körperlich anstrengenden Berufen, in denen sie einen schlechteren Arbeitsschutz genießen. Offenbart wurde dieser Missstand bei den großflächigen Ausbrüchen in Fleischbetrieben wie Tönnies oder bei Erntehelfern, die oft unter schlechten Arbeits- und Wohnbedingungen arbeiten und wo Hygienevorschriften am Arbeitsplatz wie Mindestabstand schlechter eingehalten werden können.
Hartnäckig hält sich auch die Annahme, dass die Pandemie zu einer Umverteilung führen könne und wirtschaftlich soziale Ungleichheiten abnehmen würden. In Deutschland ist einerseits richtig, dass die staatlichen Mittel zur Absicherung durch Kurzarbeitergeld oder ein gutes Sozialsystem besser ausgestaltet sind als in anderen Ländern. Dennoch zeigte sich, dass Beschäftigungsgruppen, die schon vorher in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiteten, auch härter von den wirtschaftlichen Folgen getroffen werden. In vielen Branchen fielen als allererstes schlecht abgesicherte Minijobs weg, von denen beispielsweise besonders Studierende getroffen wurden. Eine repräsentative Umfrage des Personaldienstleister Zenjob etwa ergab, dass knapp 40 Prozent der Studierenden durch die Pandemie ihren Job verloren hätten. Eine Gruppe, die von Minijobs stark abhängig ist.
42, Prozent der Mütter gaben an, sich kaum noch auf den Beruf konzentrieren zu können. Bei den Männern sind es 27,3 Prozent.
Zahlen einer aktuellen Stepstone-Studie
Zudem zeigte sich, dass vor allem Mütter und Frauen ihre beruflichen Ambitionen für das Familienleben hintenanstellten und durch Home-Schooling, Kinderbetreuung oder Arbeiten im Haushalt ein stärkeres Stresslevel hatten. Laut einer Stepstone-Studie gaben 42,5 Prozent der Mütter an, sich durch die Doppelbelastung aus Familie und Beruf kaum noch auf die berufliche Tätigkeit konzentrieren zu können, während es bei den Männern etwa 27,3 Prozent der Befragten waren.
These 2: Die Pandemie kann zu einem Systemwandel in den sogenannten „systemrelevanten Berufen“ führen.
Berufe, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt von besonderer Bedeutung sind, gelten schon seit längerer Zeit als unterbezahlt und wenig wertgeschätzt. In der Debatte um soziale Folgewirkungen der Pandemie wurde daher viel über die Chance zu einem Systemwandel in gesellschaftlichen Schlüsselbranchen wie der Pflege, dem Einzelhandel oder der Kinderbetreuung debattiert. Ein Zeichen wollte auch die Politik setzen und kündigte einen steuerfreien Bonus für „systemrelevante Berufe“ an, die von Alltagshelden zusammengehalten würden. Monate später zeigt sich, dass eine wirklich nachhaltige Veränderung in diesen Bereichen vermutlich ausbleiben wird. Die Debatte um eine bessere Bezahlung von Pflegekräften oder Kassierer*innen und eine Aufwertung von Jobs in sozialen Bereichen, die zudem deutlich häufiger von Frauen ausgeübt werden, geriet bald in Vergessenheit. Auch der vom Staat angekündigte Pflegebonus ist nach Erfahrungsberichten nicht überall angekommen. Krankenpflegern steht dieser Bonus beispielsweise nicht zu, während Altenpfleger profitieren.
These 3: Die Pandemie führt zu einem friedlicheren Zusammenleben der Kulturen und unterschiedlichen Nationen.
Diese Hoffnung verbreitete sich ebenso schnell wie andere Gründe für eine sozial gerechtere Gesellschaft. Jeder ist von dem Virus getroffen, also sind alle Menschen egal welcher Nationalität vor dem Virus grundsätzlich gleich. Dass dies in der Praxis leider nicht immer der Fall ist, zeigte sich verstärkt in den USA, wo Afroamerikaner laut Daten der US-Gesundheitsbehörde CDC einem knapp dreimal höheren Risiko ausgesetzt sind, an einer Corona-Infektion zu erkranken. Auch hier liegen die Gründe in den oft schlechteren Arbeitsbedingungen dieser Gesellschaftsgruppe, die oft schlechter versichert ist und nicht so gute Jobchancen hat wie andere Gruppen, was auch bestehende Vorerkrankungen nachweislich verstärken kann und das Gesundheitsrisiko damit erhöht. Die strukturelle Benachteiligung von Schwarzen in den USA ist ein bereits lange schwelendes Pulverfass, das gerade in Zeiten der Pandemie zu einem verstärkten Sprengstoff führte und die Debatte um Rassismus in den USA so stark aufleben ließ wie seit Jahren nicht mehr.
Letztlich lässt sich feststellen, dass die Pandemie viele Chancen zu gesellschaftlichen Veränderungen bietet, die aber bisher oftmals ungenutzt bleiben.
Quellen: https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/coronavirus/307702/soziale-folgen
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-systemrelevante-berufe-bonus-100-100.html
https://www.tagesschau.de/ausland/coronarisiko-usa-101.html
https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/rassismus-usa-schwarze-menschen