POLITIK

Die Opposition in Russland

Diana Laarz, 8.8.2012, für Bundeszentrale für politische Bildung

Die Fälschungsvorwürfe nach der Dumawahl im Dezember 2011 haben der Oppositionsbewegung Auftrieb gegeben, Zehntausende demonstrierten im Zentrum Moskaus und in der Bevölkerung gab es einen Politisierungsschub. Aber noch immer ist die Opposition in Russland schwach: Die Zulassung neuer Parteien ist schwer, die oppositionellen Gruppen oft uneinig.
Die russische Opposition: Lange Zeit fristete sie nur ein Nischendasein. Sie war oft zerstritten und machte in Teilen mit der Regierung gemeinsame Sache. Doch ihre öffentliche Wahrnehmung änderte sich am 10. Dezember 2011. An diesem Tag, sechs Tage nach der Wahl zum russischen Parlament, der Duma, versammelten sich auf einem Platz nahe des Moskauer Zentrums Zehntausende Menschen. Die Polizei gab später die Teilnehmerzahl mit 25.000 an, die Organisatoren sprachen von 100.000 – bis 120.000 Menschen. Egal, welche Zahl stimmt, fest steht: Es war die größte Demonstration seit dem Sturm auf das Moskauer Parlamentsgebäude im Oktober 1993. Das Volk, das sich fast zwei Jahrzehnte lang resigniert ins Private zurückgezogen hatte, stand plötzlich auf der Straße, verlangte Neuwahlen und ein Ende der Ära Putin.

Seitdem ist die das politische Gefüge in Russland durcheinander gewirbelt. Bislang galt: Die Putin-Partei „Einiges Russland“ bestimmt den Kurs, die Schein-Opposition täuscht Pluralität vor, die es faktisch nicht gibt und außerparlamentarische Initiativen werden so schnell wie möglich mundtot gemacht. Eine starke Opposition als politische Alternative, die die Regierung effektiv kontrollieren kann, ist zwar in Russland immer noch nicht vorhanden, aber sie hat seit dem ersten Aufbegehren im Dezember 2011 einiges an Durchsetzungskraft gewonnen.

Die parlamentarische Opposition – erste Schritte zur Emanzipation

Die Dumawahlen vom 4. Dezember 2011 wurden von massiven Fälschungsvorwürfen begleitet und gelten als Auslöser der Straßenproteste. Dennoch wurde das Ergebnis offiziell bestätigt. Aus ihnen ging die Putin-Partei „Einiges Russland“ mit 49,32 Prozent der Stimmen als Sieger hervor. Das waren zwar 14 Prozentpunkte weniger als bei der vorherigen Wahl 2007, reichte aber immer noch für die absolute Mehrheit an Mandaten (238). Die parlamentarische Opposition – in Russland auch Systemopposition genannt – besteht nach der Wahl aus drei Parteien. Drei weitere Parteien, die es auf die Wahlzettel geschafft hatten, scheiterten deutlich an der in Russland geltenden Sieben-Prozent-Hürde. Oft wird der Duma der Vorwurf gemacht, sie würde Gesetzesinitiativen des Kreml lediglich abnicken. Nicht zu Unrecht. Schließlich kann „Einiges Russland“ mit der absoluten Mehrheit der Stimmen nach Belieben schalten und walten. Und immer wieder gibt es Abstimmungen mit bis zu 95 Prozent Zustimmungsraten. Doch die Systemopposition hat in den vergangenen Monaten erste Schritte zur Emanzipation unternommen: Im Parlament gibt es zunehmend Gegenstimmen und im Organisationskomitee der großen Moskauer Demonstrationen zu Beginn des Jahres 2012 saßen auch Vertreter der Kommunisten und „Gerechtes Russland“.

„Liberal-Demokratische Partei Russlands“ (LDPR)

Die „Liberaldemokraten“ um ihren Gründer und Vorsitzenden Wladimir Schirinowskij verhalten sich sehr oft regimetreu. Die Partei ist zwar dem Namen nach liberal-demokratisch, doch nicht zuletzt wegen Schirinowskij gilt sie eher als nationalistisch-populistisch. Oft tritt die LDPR für eine Stärkung der Position der Russen gegenüber anderen Ethnien in Russland ein und versteckt Rechtsextremismus unter dem Deckmantel des Patriotismus.

„Kommunistische Partei der Russischen Föderation“ (KPRF)

Deutlichere Züge einer parlamentarischen Opposition trägt die KPRF, Nachfolgepartei der sowjetischen kommunistischen Partei KpdSU. Strategisches Ziel der Partei ist laut Programm die Errichtung eines „erneuerten Sozialismus“, dazu zählen die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und kostenlose medizinische Versorgung für alle Bürger.

Die außerparlamentarische Opposition – zwischen Parlament und Straße

Außerhalb des Parlaments gibt es in Russland ein breites politisches Spektrum – von ultralinks bis nationalistisch. Gehör bei der Bevölkerung konnten sich die verschiedenen Lager bislang jedoch kaum verschaffen. Das liegt zum einen an den Ketten, die ihnen der Staat anlegt. So ist es zur Routine geworden, dass die Wahl-Anmeldungen von Kandidaten der oppositionellen Bewegungen wegen angeblicher Formfehler annulliert werden. Grigorij Jawlinskij, Ex-Parteichef der liberalen Partei „Jabloko“ (Apfel), wurde im Januar 2012 die Zulassung zur Präsidentschaftswahl verweigert. Ein Teil seiner zwei Millionen Unterstützungsunterschriften soll gefälscht gewesen sein.

Die Zulassung neuer Parteien ist ebenfalls schwer: Das russische Justizministerium, hier müssen sich neue Parteien spätestens sechs Monate nach dem Gründungsparteitag registrieren, lehnt eingereichte Dokumente des Öfteren ab. Auch die Sozialdemokratische Partei des einstigen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow ist nicht registriert.

RPR-Parnas

Vier Parteien wurden seit dem Jahr 2002 im Riesenreich Russland neu zugelassen, drei von ihnen wurden vom Kreml mitgegründet, die vierte Partei ist die Republikanische Partei Russlands (RPR). Im Jahr 2007 wurde die RPR nach einer Verschärfung des Parteiengesetzes zwangsweise aufgelöst. Erst ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte führte dazu, dass die Auflösung der RPR Mitte 2012 vom russischen Justizministerium rückgängig gemacht wurde. Die RPR fusionierte daraufhin mit der Partei der Volksfreiheit, PARNAS, der im Jahr 2011 die Registrierung verwehrt worden war. Die aus der Fusion entstandene RPR-Parnas wird dem liberalen Spektrum zugeordnet und hat etwa 50.000 Mitglieder. Die Partei tritt insbesondere für eine politische Reform im Jahr 2012 ein und für die Durchführung neuer Parlaments- und Präsidentschaftswahlen spätestens 2013. Die drei Vorsitzenden sind Wladimir Ryschkow, Michail Kassjanow und Boris Nemzow.

Nemzow war eine der schillerndsten Persönlichkeiten der russischen Liberalen. Nemzow, 53 Jahre alt, war einst der jüngste Gouverneur Russlands und in den 1990er-Jahren unter Boris Jelzin Vize-Premier. Er engagierte sich danach als Co-Vorsitzender der Bewegung „Solidarnost“ und tritt vor allem für eine freie Marktwirtschaft ein. Der charismatische Boris Nemzow war selbst schon mehreren Korruptionsvorwürfen ausgesetzt und steht bei vielen Russen für das wirtschaftliche Chaos der 1990er-Jahre. Er genießt große Unterstützung aus dem Westen und gilt als Favorit der Europäer und Amerikaner bei künftigen Wahlen. An Nemzows Seite streiten für ein liberales Russland neben Ryschkow und Kassjanow vor allem Wladimir Milow und Ilja Jaschin. Nemzow und Milow veröffentlichten Mitte 2010 das kritische Buch „Putin. Ergebnisse. 10 Jahre“, eine der Aufsehen erregendsten Publikationen der Opposition in den vergangenen Jahren.
Nachwuchsstar der Liberalen ist Ilja Jaschin. Der 30-Jährige hat nur ein Ziel: Den Sturz des Ministerpräsidenten Wladimir Putin. Dafür gründete er die Aktion „Putin muss gehen“.

Ebenfalls dem liberalen Lager zuzurechnen sind Michail Prochorow und der Ex-Finanzminister Alexej Kudrin. Prochorow, einer der reichsten Unternehmer Russlands, trat zur Präsidentschaftswahl an, musste sich aber trotz sehr kritischer Äußerungen bis zuletzt den Vorwurf gefallen lassen, eine Marionette Wladimir Putins zu sein. Kudrin war zuvor nicht durch regimekritische Äußerungen aufgefallen, aber genau deshalb hören die Menschen genauer hin, wenn er bei Demonstrationen auf der Bühne auftritt. Er gilt als möglicher Gründer einer rechts-liberalen Partei.

Unangefochtener Star der Opposition ist Alexej Nawalnyj. Der bloggende Jurist aus Moskau hat sich in den vergangenen zwei Jahren bei der Bevölkerung viel Ansehen erarbeitet. Er begann mit Online-Projekten gegen die Korruption in Russland und Klagen gegen die größten russischen Konzerne, schuf für „Einiges Russland“ den Begriff „Partei der Gauner und Diebe“, der zum geflügelten Wort wurde, und schloss zuletzt eine zukünftige Präsidentschaftskandidatur nicht mehr aus. Der 35-Jährige wurde vom Time-Magazine bereits zu Russlands Erin Brokovich ernannt. Kritik aus dem In- und Ausland erntete er vor allem, als er 2011 mit nationalistischen und gar rechtsextremen Äußerungen auffiel. Er gehörte Ende 2011 zum Organisationskomitee des „Russischen Marsches“, einer Veranstaltung der russischen Nationalisten.

Im ultralinken Spektrum der russischen Opposition tummeln sich Sergej Udalzow und Eduard Limonow. Udalzow versucht bislang erfolglos die Partei „ROT Front“ registrieren zu lassen. ROT steht für „Russische Vereinigte Arbeiterfront“. Anders als die KPRF will Udalzow, bekannt als feuriger Redner, nicht mit Sowjetnostalgie hausieren gehen, sondern den Kommunismus bei der Jugend salonfähig machen. Eduard Limonow ist wohl der umstrittenste Oppositionelle. Seine frühere extremistische nationalbolschewistische Partei, mit der Limonow russischen Großmachtfantasien nachhing, wurde verboten, mit „Anderes Russland“ wagt er einen neuen Versuch.

Der politische Bürger – eine neue oppositionelle Kraft

Lange Zeit galt in Russland eine Art Gesellschaftsvertrag: Wladimir Putin sorgt für eine stetige Verbesserung der Lebensverhältnisse, das Volk akzeptiert dafür Autokratie, Korruption und Justizwillkür. Doch dieses Übereinkommen verliert an Gültigkeit, die Gesellschaft will sich die Bedingungen für den wachsenden Wohlstand nicht mehr unwidersprochen diktieren lassen.

Schon im Laufe des Jahres 2011 sanken die sonst sehr hohen Zustimmungswerte für die beiden führenden Politiker des Landes Wladimir Putin und Dmitrij Medwedew erheblich. Die Ankündigung, dass Putin erneut als Präsident kandidieren werde, sorgte für noch mehr Unruhe. Nach den plump gefälschten Dumawahlen im Dezember brach der Unmut offen hervor. Seitdem reißen die Straßenproteste nicht ab. Zwar sind die Teilnehmerzahlen inzwischen wieder rückläufig, das politische Interesse jedoch ist geblieben – und die Überzeugung, dass Protest möglich ist. Die Direktwahl der Gouverneure in den Regionen, einst von Wladimir Putin abgeschafft, wurde inzwischen unter dem Druck der Straße wieder eingeführt. Die meisten Teilnehmer der Straßenproteste stammen aus der jungen urbanen Mittelschicht – jener Schicht also, die im vergangenen Jahrzehnt unter Wladimir Putin stillgehalten hat. Ein Politisierungsschub der Bevölkerung, vor allem in den Großstädten, ist unbestreitbar. Die Frage ist nur, ob die Teilnehmer der Straßenproteste sich auch politisch organisieren oder sich einer bestehenden Organisation anschließen werden. Erste Anzeichen sprechen dafür, dass das Misstrauen gegen die Politik immer noch groß ist. Zwar gründeten bekannte Persönlichkeiten, darunter der Schriftsteller Boris Akunin („Fandorin“-Reihe) und die Moderatorin und einstige Putin-Vertraute Xenija Sobtschak, die „Liga der Wähler“, die sich für gerechte Wahlen einsetzen soll. Doch ausdrücklich wurde niemand in die Liga aufgenommen, der ein politisches Amt anstrebt. Während der ersten Straßenproteste ist es der Systemopposition, der außerparlamentarischen Opposition und den empörten Bürgern gelungen, eine Art negativen Konsens zu finden. „Putin muss weg“ – diese Parole einte Gruppen, die eigentlich unvereinbar sind. Bei der Entwicklung eines positiven Konsens tut sich die Opposition ungleich schwerer. Allein das Dagegensein reicht nicht mehr, nun geht es um konkretere Pläne und Forderungen. Die anfängliche Stärke – das Fehlen von Führungspersönlichkeiten – erweist sich nach und nach als Schwäche. Doch eine Diskussion über Politik und Zukunft ist im Gange. Erst in den kommenden Monaten und Jahren wird sich endgültig zeigen, wie sich die Erfahrungen des Jahreswechsels 2011/2012, die Mobilisierung der Massen, auf die organisatorische Struktur und Durchschlagskraft der Opposition ausgewirkt hat. Wladimir Putin fürchtet offenbar die neue Stärke der Opposition – und wehrt sich. Im Frühjahr 2012 hat er begonnen, die außersystemische Opposition erneut zu isolieren. In einem ersten Schritt wurden die Strafen für Verstöße bei Demonstrationen drastisch heraufgesetzt. Außer drei Abgeordneten stimmte die gesamte Duma-Opposition gegen das neue Gesetz.

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