Flüchtlinge im Klassenraum – Gelingt eine Inklusion?

Die wachsende Zahl von Zuwanderern aus Kriegsgebieten wie Syrien oder dem Irak haben die deutsche Gesellschaft spätestens seit dem massiven Anstieg im Spätsommer 2015 vor eine gewaltige Herausforderung gestellt. 441.899 Erstanträge zählt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für 2015, bis zum August 2016 kommen weitere 564.506 dazu. Der Flüchtlingszuzug fordert die Deutschen in allen Lebensbereichen. Bestimmte Bereiche sind dennoch besonders gefordert: Bildungsinstitutionen gehören zu den wichtigsten Vermittlern der Integration. Ohne Bildung kann eine schnelle Eingliederung von Flüchtlingen nicht gelingen. Mit dem neuen Schuljahr werden laut ZEIT-ONLINE-Recherchen etwa 300 000 Flüchtlingskinder an deutschen Schulen unterrichtet.

Der große Andrang wird zu einer schweren Aufgabe für Pädagogen, die kurzfristig mit der Eingliederung von Schülern unterschiedlicher Bildungsniveaus beauftragt werden. Sichere Zahlen zur Unterbringungslage von Flüchtlingskindern stehen noch aus und doch existieren bereits verschiedene Bildungskonzepte zur Integration. Ein Stichwort ist im Bildungsdiskurs der letzten Jahren besonders häufig gefallen: Das Konzept der Inklusion geht weiter als bisherige Integrationsmaßnahmen und ist seit Jahren heiß diskutiert. Ursprünglich bekannt wurde der Begriff für seine Zielsetzung, eine gleichberechtigte Aufnahme von Schülern mit Behinderungen im Regelunterricht zu erreichen. Vor dem Hintergrund der zunehmenden, interkulturellen Diversität in Klassenräumen wird das Schlagwort dagegen in jüngster Zeit auch auf den Aspekt der Migration bezogen. Sein zentrales Ziel, die gesellschaftliche Anerkennung von Vielfalt, gelte laut Forschern für alle diversen Lebensformen. Die Förderung reicht von der Unterschiedlichkeit sozialer Herkünfte bis zu interkultureller Vielfalt. Inklusion ist ein dehnbarerer Begriff, der von Schulen einen massiven Einsatz fordert. Kann die Inklusion von Flüchtlingen gelingen? Und wenn ja, wie?

Wie unterscheidet sich Inklusion überhaupt von der klassischen Form der Integration? Eine genaue Abgrenzung ist gar nicht so einfach, da sich die zugrundelegenden Konzepte im Kern nicht groß voneinander unterscheiden. Selbst Inklusionsforschern fällt eine trennscharfen Begriffsklärung ihres Forschungsgegenstandes schwer.

“[…] schließlich wird mit dem Ansatz einer “successful inclusion” […] nichts Anderes bezeichnet als das, was bisher unter Integration gefasst wird.” — Andreas Hinz, in: Von der Integration zur Inklusion, Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 53 (2002)

Grundsätzlich haben beide Konzepte das Ziel einer heterogenen Lerngruppe, wobei Integration eher eine Homogenisierung der Lernniveaus anstrebt. Somit liegen die Unterschiede vor allem in der Form der Herangehensweise. Während integrative Konzepte Migration tendenziell als unerwünschte Abweichung von der Norm verstehen, möchte die Inklusion Vielfalt in seinen positiven Aspekten beleuchten. Hierfür bedarf es jedoch einem grundlegenden Wandel der Bildungsinstitutionen. Das deutsche Schulsystem gilt als Produkt der Ständeordnung im 19. Jahrhundert. Die Vorstellung vorgeprägter Stände dominierte den Bildungsansatz der damaligen Zeit. Das gegliederte Bildungssystem des 21. Jahrhunderts fördert auch heutzutage noch die Homogenität im Klassenraum.

Der englische Soziologe Tony Booth stellt dem ein dreiteiliges Konzept der Inklusion entgegen. Seine Konzeption ergänzt die integrative Beschränkung auf den individuellen Förderbedarf durch einen Wandel der dazugehörigen Institutionen sowie einer Unterrichtung inklusiver Werte. Für junge Migrationsgruppen reicht es aus inklusiver Sicht also nicht, einen Klassenraum bereitzustellen und diesen mit Schülern aus unterschiedlichen Herkunftsländern zu füllen. Vielmehr geht es darum, das Ökosystem Schule gänzlich anzupassen an die Rahmenbedingungen einer vielfältigen Bildungsgemeinschaft. Ein erfolgreicher Weg zur Inklusion von Flüchtlingen kann in der Praxis allerdings nur schrittweise erfolgen. Für den Prozess lassen sich drei grundlegende Maßnahmen anführen, die als maßgebliche Faktoren dienen.

1) Keine Inklusion ohne Integration

Angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingskindern, die im neuen Schuljahr einen Platz in deutschen Klassenzimmern suchen, muss zunächst die administrative Aufgabe der Unterbringungsfrage gelöst werden. Denn bei der immer lauter werdenden Kritik gegen die Flüchtlingspolitik in Deutschland, gilt es vor allem bei der Bildungsfrage, den gebetsmühlenartig vorgetragenen Vorsatz der Bundesregierung unter Beweis zu stellen: Das Credo „Wir schaffen das“ muss auch in der Praxis seine Wirkung offenbaren. Ein Scheitern hätte fatale Folgen, die sich nicht zuletzt auf die gesellschaftliche Anerkennung des in­klusiven Bildungssystems niederschlagen. Gegner einer von interkulturellen Vielfalt geprägten Gesellschaft wie Pegida profitieren von der Unsicherheit der Bürger. Der daraus resultierende, soziale Sprengstoff, macht ausgerechnet fördernde Konzepte wie das der Inklusion anfällig für Kritik und Zweifel. Ein Bildungsplatz für alle — so wie es auch die allgemein geltende Schulpflicht vorsieht — birgt seinerseits einige Hürden. Eine von diesen ist der ohnehin große Mangel an Lehrkräften, die sich nun um die Integration von bis zu 300.000 Kindern und Jugendlichen kümmern müssen. Laut Schätzungen der Kultusministerkonferenz der Länder müssten für eine problemlose Bewältigung etwa 20.000 neue Stellen geschaffen werden, das Angebot an neuen Lehrkräften sei jedoch erschöpft. Hoffnung besteht einzig in der Hilfe durch ehrenamtliches Engagement.

2) Inklusion entsteht in den Köpfen

So wie auch einige namhafte Autoren der Heterogenitätsforschung erkennen, müsse bei der Bildung nicht nur an der Struktur von Institutionen angesetzt werden, sondern zu allererst bei den pädagogisch Handelnden selbst. Auch hier droht Überforderung, wenn Pädagogen nicht schnell und ausreichend auf eine Arbeit mit Flüchtlingskindern vorbereitet werden. Im Fokus stehen Fortbildungsmaßnahmen für Lehrer, im Speziellen wird der Umgang mit traumatisierten Kindern genannt. Der Schulpsychologe Stefan Drewes betont in diesem Kontext, dass es zu der Aufgabe der Lehrer gehört, für jene Flüchtlingskinder ein sicheres Umfeld zu schaffen, das zur Bewältigung von Traumata beiträgt.

“Wenn es die Schule schafft, diesen Kindern ein Gefühl von Sicherheit zu geben, und Lehrer in der Lage sind, Beziehungen und Bindungen aufzubauen, dann können die Kinder nach einer Flucht beginnen, hier ihre Erlebnisse zu verarbeiten und mit neuen Erfahrungen zu überschreiben.” — Stefan Drewes, in:http://www.zeit.de/2016/29/fluechtlingskinder-schulen-lehrer-psychologie-traumata

Gleichzeitig dürften Ansprüche nicht zu hochgestellt werden, da Kinder mit Migrationshintergrund durch eine hohe Lernbereitschaft oft selbst zur Inklusion beitragen. Nun könnte man meinen, die bestehenden Fortbildungsmaßnahmen trügen in der Anfangsphase eher zu einer Homogenisierung und Angleichung bei. Denn neu zugewanderte Kinder werden in allen Bundesländern zunächst in separate Vorbereitungsklassen gesteckt, in denen Geflüchtete eine spezielle Förderung zur Erlernung der deutschen Sprache erhalten. Diese seien jedoch ein notwendiger Schritt, so Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, Autor der Studie „Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem.“ Ein sogenanntes subversives Modell, das dem inklusiven Grundsatz des „Voneinander Lernens“ am ehesten entspräche, reiche nicht aus, da Flüchtlingskinder in Regelklassen gesteckt würden, ohne gezielt Deutschunterricht zu erhalten. Daher kommt die individuelle Förderung auch der Inklusion zugute, da somit die Chancengleichheit und Teilhabemöglichkeiten geflüchteter Kinder erhöht werden.

“Das erste Modell, das wir das submersive nennen, ist nicht in Ordnung. Hier werden Kinder in die Regelklassen gesteckt, ohne gezielt Deutschunterricht zu erhalten. Das reicht nicht.” — Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, in:http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2015-10/studie-schule-fluechtlinge-willkommensklasse

Sobald geflüchtete Kinder mit einem ausreichenden Sprachniveau in den geregelten Schulablauf integriert werden, muss jedoch das Homogenitätsprinzip durch eine Vermittlung von inklusiven Werten ersetzt werden, sodass die interkulturell bedingte Verschiedenheit der Klassengemeinschaft zunehmend Anerkennung findet. Zu den bereits existierenden, wichtigen Bestandteilen zählt die humanistisch geprägte Bildung, die als wichtiger Bestandteil vieler Schulen etabliert ist und eine allgemeine Wertschätzung von Vielfalt fördert. Der „Index für Inklusion“, einer der wichtigsten und anerkanntesten Leitfäden für Schulen, nennt die Förderung inklusiver Werte sogar den wichtigsten Bestandteil der inklusiven Pädagogik. Die Unterrichtung von Wertschätzung, gegenseitigem Respekt und Nicht-Diskriminierung sollten dabei an vorderster Stelle stehen.

3) Nachhaltiger Erfolg braucht Reflexion

Ein Wandel in den Köpfen sowie den Institutionen der Bildung ist langwierig und kann selbstverständlich nicht von einem Tag auf den anderen umgesetzt werden. Sinnvolle Evaluationskonzepte helfen aber, aus Fehlern zu lernen und mögliche Schwächen ausfindig zu machen. Entsprechende Modelle, wie der bereits genannte „Index für Inklusion“, existieren bereits, haben sich jedoch in Deutschland noch nicht wirklich durchgesetzt. Vereinfacht sieht das Modell einen kreisläufig verlaufenden Prozess vor, in dem sich Konzeptentwicklung und Reflexion ständig wiederholen. Dennoch sieht sich der Index nicht als fest vorgeschriebenen Plan, sondern könne je nach Schulform und Bedarf individuell angepasst werden. Reflektieren können alle Beteiligten anhand eines Fragebogenformats, dass Möglichkeiten des Feedback in den Kategorien „Inklusive Kulturen schaffen“, „Inklusive Strukturen etablieren“ und „Inklusive Praktiken entwickeln“ anbietet.

Die schematische Darstellung nach Boban & Hinz zeigt den Reflektionsprozess bei der Inklusion. Quelle: Boban, Ines/ Plate, Elisabeth: Der Index für Inklusion — Inklusion als Unterstützung für alle Beteiligten erleben, in: Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt (Hrsg.): Inklusive Schule in Sachsen-Anhalt — Vom Konzept zur Praxis. Dokumentation des Fachtags vom 19. November 2013, Halle 2014, S. 25–35, S. 30.

Letztendlich geht es also darum, in Schulen eine selbsttragende Dynamik der Inklusion zu etablieren, sodass Pädagogen, aber auch Elternschaft und Schulleitung zu einem höheren Maß an gleichwertiger und anerkannter Teilhabe beitragen können. Auf dem Weg zur Anerkennung von interkultureller Vielfalt ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen notwendig, das vor allem den Einsatz aller beteiligten Gruppen erfordert. Von diesen wird ein Erfolg am Ende mehr abhängen als dem Theoriegehalt der Soziologen.

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