“Rom, Venedig und Hardt – einzig in ihrer Art.“
Kurz zu mir: Mein Name ist Pauline, ich bin 23 und Studentin in Hamburg.
Meine Papa pflegt das Sprichwort: Rom, Venedig und Hardt – einzig in ihrer Art. Er hat Recht, er ist dort aufgewachsen, wie auch ich. Hardt, das ist ein 8.000 Einwohner Dorf, 10 km von der Innenstadt Mönchengladbachs entfernt, wo die Seele von Borussia Mönchengladbach schlägt und jeder Rheinländer genauso lacht wie auch ich: laut und eigentlich immer. Hier weiß jeder, dass Heimat unabhängig von Schönheit ist, sondern abhängig von Gemeinschaft.
In meinem Dorf bin ich oft bei meinen Großeltern gewesen, die früher eine Dorfmetzgerei betrieben. Mit meiner Oma ging ich häufig sonntags mit Sonntagskleidung in die katholische St. Nikolaus Kirche, obwohl ich eigentlich evangelisch war und meine Eltern nicht sonderlich religiös. Danach machten wir Spaziergänge mit ihren alten Freundinnen durch den Hardter Wald. Als sie starb, bestand der Trauerzug aus gefühlt einem Achtel des Dorfes – und sie war eine ganz einfach Frau, eine Verkäuferin in der Metzgerei ihres Mannes. Sie betete vor dem Schlafengehen, von ihr bekam ich meine moralapostelmässige und manchmal leicht konservativ-schicke Art, aber auch die freche. Die Gemeinschaft Hardt hatte eine nicht-ersetzbare Freundin verloren.
Die Familie der Schwester meines Vaters wohnte keine 3 Minuten zu Fuß entfernt. An Wochenenden freute ich mich über die Besuche meiner Cousinen oder besuchte sie in ihren Studienorten: Münster und Aachen, 1-2 Stunden Bahn. Die damals 20-jährigen Cousinen gingen mit mir, kleinem Mädchen, ein ganzes Wochenende in den Zoo, in die Mensa, an den See, anstatt mit ihren Unifreunden durch Bars zu ziehen.
Jeder Mensch meiner Familie zählte für mich als mein Ursprung, mein Herzschlag, mein Idol. Ich wollte immer sein, wie meine Familienmitglieder längst waren.
Ich liebte das Dorfleben, obwohl sich mein Tagesleben in der Stadt verbrachte, wo ich zu einem privaten katholischen Gymnasium ging mit den „Stadtkindern“, während die Dorfjugend auf ein näher gelegenes Gymnasium zog. Viele Nächte verbrachte ich dennoch mit meinem älteren Cousin und seinen noch älteren Freunden, die für das Studium maximal nach Aachen gezogen waren, in der Dorfkneipe, dem Zeus, der eigentlich Jägerhof heißt, aber den jeder nur nach seinem Besitzer benennt. Hier tranken wir mittwochs Bier für 1 Euro, häufig mit den Freunden meines Vaters gemeinsam und philosophierten unseren eigentlich kurzen Weg stundenlang nach Hause.
Meine gleichaltrigen Freunde kamen jedoch aus der Innenstadt Mönchengladbachs, wo ich mich ebenfalls häufig rumtrieb, meine Mutter mich aber stets hinfuhr und zu jeder Nachtzeit abholte- inklusive aller meiner Dorffreunde, die sie alle nach Hause fuhr. Das Dorftaxi, meine Mami.
Ich fühlte mich hier immer wohl, aber für mein Studium wollte ich etwas anderes kennenlernen. Ich wollte etwas studieren, das mich herausforderte, wollte das Leben in der Großstadt kennenlernen, eine zweite, neue Heimat mit neuen, andersdenkenden Freunden aus ganz Deutschland finden. Ich wollte unabhängig werden. Und bekam einen Studienplatz in Bochum.
Als ich mit meinem Papa durch Bochum lief, musste ich fast weinen. Ich war so dankbar über meinen Medizinstudienplatz, so unendlich dankbar, und trotzdem so sauer, dass ich nach Bochum ziehen sollte. Bochum erinnerte mich so sehr an Mönchengladbach. Ich wusste, dass ich hier Menschen finden würde, die ich lieben würde, dass ich Kneipen finden würde, die ein zweites Zuhause würden, dass ich glücklich sein könnte und werden würde, aber, dass es mich nicht erfüllen würde- zumindest nicht für die nächsten 5 Jahre.
Also verbrachte ich Wochen in Online Portalen für Studienplatztausche und fand Franziska, die mit mir für ihre große Liebe von Hamburg nach Bochum tauschte. Hamburg, eine Stadt mit 1,7 Millionen Einwohnern, in der man schräg angesehen wird, wenn man, wie ich, andauernd laut loslacht oder freche Kommentare abgibt. Hamburg, eine wunderschöne Stadt, mit Hafen und Alster und Kultur und allem, was Mönchengladbach nicht hat, aber Menschen, die so anders eingestellt sind, als ich es war. Hier kostet ein kleines Bier 3 Euro (von Mietpreisen will ich gar nicht erst anfangen), einen Traktor hab ich tatsächlich in 5 Jahren nicht ein einziges Mal gesehen und Schlager kennt man nur vom Schlagermove, wo aber keiner, den ich kenne, hingeht. Im Zweifel ist das eine Erfindung für all die, die vom kleinen Dorf in die Millionenstadt gezogen sind. Das Ticket nach Hause kostet mindestens 20 Euro pro Fahrt. Also 40 Euro, um ein Wochenende nach Hause zu kommen und zweimal mit den Eltern zu Abend zu essen, anstatt kostenlos und schnell mit dem NRW-Ticket von Bochum nach Mönchengladbach-Hardt zu pendeln.
Ich vergaß die Heimat kein bisschen. Ich verdrückte ein Tränchen, wenn ich Bilder von Familiengeburtstagen sah, aber bereute es nicht, gleichzeitig durch die Schanze zu ziehen, neue Bars zu erkunden, Caipis in der Katze oder an der Elbe ein Alsterwasser zu trinken und Sonntags in die Kunsthalle zu gehen. Ich studierte und liebte es. Ich liebte und liebe Hamburg. Ich liebe das förmliche Sie, dessen Du man sich hart erkämpfen muss. Ich liebe das Derbe, von dem alle immer reden. Ich liebe Sonntagsspaziergänge an der Alster. Und ich liebe es die Leute von hier mit meiner rheinischen Frohnatur zum Lachen zu bringen – aber ich vermisse es, von anderen diese Frohnatur zu erleben.
Dann fing ich an, für jeden Familiengeburtstag und jedes Mal, wenn meine beste Freundin aus der 5. Klasse daheim war, nach Hause zu fahren. Zu jedem Schützenfest. Auf einmal konnten meine Unifreunde aus Frankfurt, München, Berlin nicht verstehen, wieso ich so oft nach Hause fahre, was ich mit den ganzen Schlagern anfangen kann, die ich auf jeder Party um drei Uhr nachts anschmeiße, und wieso ich mit so „einfach denkenden Dorftrotteln“ klarkomme, die auf Schützenparaden mit Fake-Gewehren marschieren und danach billiges Bier in Zelten trinken. Ich hörte irgendwann auf, mich zu rechtfertigen. Und sagte einfach, dass sie das nicht verstehen können und Hardt schlicht und einfach der schönste Ort der Welt ist. Wo jeder weiß, dass Heimat unabhängig von Schönheit ist, sondern abhängig von Gemeinschaft. Ich meinte es so. Und so ist es zur Tradition geworden, dass meine Freunde aus Hamburg an Karneval zu meiner Familie nach Hardt kommen und Hardt genauso lieben lernten.
Vor zwei Jahren haben mein Freund, den ich in der ersten Uni-Woche kennengelernt habe, und ich uns getrennt. Weil wir zu oft gestritten haben. Wenn meine Freundinnen mich nach Beispielen fragten, dann sagte ich: Naja, ich bin noch so jung und wir haben uns sogar darüber gestritten, wo wir später hinziehen wollen. Und ich weiß, dass das zu früh ist. Und ich weiß, dass ich da nicht festgelegt sein sollte. Aber wenn ich nunmal darüber nachdenke, wo ich später hinziehen will… dann will ich zurück. Es muss nicht Hardt sein, aber schön fand ich es doch. Aber vielleicht muss es NRW sein, mir fehlen die Jecken… Mir fehlt das Leichtsinnige. Mir fehlt der Rhein, der nicht annähernd so schön ist, wie die Alster oder der Hafen an der Elbe- aber der so viele Städte verbindet, in denen Leute so denken, wie ich. Ich liebe Hamburg, ich bin im Herzen eine halbe Hamburgerin geworden und dennoch: ich will zurück. Nicht nur an den Rhein, sondern ins Dorf – zum Schützenfest, zum Zeus und zu den „Dorftrotteln“, die mit mir so viel mehr gemeinsam haben, als sie inzwischen denken.
Wenn ich mit meinem damaligen Freund darüber redete, wollte er nach Zürich, nach Singapur, nach Amerika, nach München ziehen – Hauptsache in einen wunderschönen Ort. Wo es Kulturangebote gibt wie in Berlin, Wetter wie in München, Häuser wie in Hamburg, Berge wie in Zürich, Erfolg wie in Amerika. Und das will ich auch, für ein paar Jahre. Für meine Zwanziger ist Hamburg und jede andere Großstadt, in die es mich noch ziehen wird, perfekt. Jeden Tag lobe ich mir meinen Bochum-Hamburg-Tausch. Ich fühle mich auch hier unfassbar wohl.
Aber wenn ich älter werde und Kinder bekomme, dann will ich, dass sie in einer solchen Gemeinschaft aufwachsen. Mit ihren Großeltern aufwachsen. Dass sie mit Traktoren zur Schule in die Stadt fahren und stolz darauf sind. Dass sie Schlager schreien können, Mädchen fragen, ob sie sie zum Schützenfest begleiten, in Kneipen sitzen, mit Vätern und Großvätern. Geborgen. Gemeinsam.
Aber er konnte das nicht verstehen. Fand das engstirnig, nicht weltoffen. Er sei halt nicht so heimatpatriotisch und fänd das auch nicht erstrebenswert. Und ich fand ihn oberflächlich, weil er seine Heimat nach dem Aussehen aussuchte, nicht nach der Gemeinschaft. Ich empfand ihn so, wie meine Dorffreunde mich wahrscheinlich sahen, als ich fürs Studium nach Hamburg zog, anstatt wie sie in der Nähe von Hardt blieb: undankbar, abgehoben, fast schon familienverräterisch.
Einen Monat nach unserer Trennung haben er und ich uns wiedergesehen. Das erste, was er mit Tränen in den Augen sagte, war: „Es tut mir so leid, dass ich dich dafür verurteilt habe, dass du zu deiner Familie zurückziehen willst. Ich weiß, das hat dich sehr getroffen. Und es tut mir so, so leid. Das ist so etwas bewundernswertes, tolles und es ist eigentlich traurig, dass ich das nicht so kenne, sehe und wünsche. Ich will, dass du weißt, dass ich dich jetzt verstehe und dafür liebe.“
Ja, dachte ich, es ist sehr traurig, wenn man nicht das Gefühl kennt, immer wieder zu einem Ort zurückkehren zu wollen, nur wegen der Gemeinschaft, die dort herrscht. Wenn man das Vertrauen in Menschen nicht hat, dass sie einen noch so unspektakulären Ort zu einem so tollen Zuhause machen können.
Was aus meinen Plänen wird: ich weiß es nicht. Aber was ihn angeht: Ich wünsche ihm, dass er eines Tages einen solchen Ort findet – ganz vielleicht in den Bergen, ganz vielleicht am Meer, oder vielleicht: bei einem anderen Menschen.
Auf einmal konnten meine Unifreunde aus Frankfurt, München, Berlin nicht verstehen, wieso ich so oft nach Hause fahre, was ich mit den ganzen Schlagern anfangen kann, die ich auf jeder Party um drei Uhr nachts anschmeiße.