POLITIK

Weg in den Erdogan-Staat

Vor über zehn Jahren begannen die offiziellen Beitrittsverhandlungen, seit drei Jahrzehnten steht der türkische EU-Mitgliedschaftsantrag im Raum und mehr als 50 Jahre wird über engere Kooperation gesprochen: Der angestrebte EU-Beitritt der Republik Türkei beschäftigt und belastet die Beziehungen zwischen Europa und Ankara seit jeher. Reformer näherten die Türkei einst an die Europäer an. Doch es sind auch einstige Reformkräfte, die in den Beziehungen zwischen der Türkei und Europa heute wieder für wechselvolle Stimmung sorgen.

Erste Anfänge

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die junge Türkische Republik unter Ministerpräsident Şemsettin Günaltay 1949 Mitglied im Europarat – noch vor der Bundesrepublik, die erst ein Jahr später hinzukam. Der Europarat ist ein Gesprächs- und Aktionsforum sämtlicher europäischer Staaten und Russland, in dem über zukunfts- und entwicklungspolitische Perspektiven auf europäischer Ebene debattiert wird. So haben sich alle Mitgliedsstaaten beispielsweise für die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten auf dem europäischen Kontinent eingesetzt. Der Beitritt der Türkei zum Europarat stellte also erste Weichen für die weiteren Schritte hin zum Beitritt des Landes zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Vorläuferorganisation der heutigen Europäischen Union (EU).

NATO und Ankara-Abkommen

Im Jahr 1952 folgte die Aufnahme der Türkei in die NATO unter dem ersten freigewählten Regierungschef Adnan Menderes. Er wurde 1960 bei einem Militärputsch entmachtet und hingerichtet und galt als starker demokratischer Reformer. Die Militärjunta hielt die Mitgliedschaft im Verteidigungsbündnis aufrecht. Die Westbindung der Türkei sollte nicht aufgegeben werden. Die Türkei besitzt eine besondere geopolitische Lage zwischen Europa, Afrika und Asien und ist mit der unmittelbaren Nachbarschaft zu Krisenregionen wie Syrien, dem Irak und Afghanistan ein wichtiger Partner für die NATO und die EU im Kampf gegen den Terrorismus.

Einer der wichtigsten Meilensteine in den Beziehungen stellt das sogenannte Assoziierungsabkommen von 1963 dar: Es ist eine echte Annäherung der Türkei an die EWG und enthielt als entwicklungspolitische Grundlage die Option für einen späteren Beitritt zur Wirtschaftsgemeinschaft als Vollmitglied. Zudem legte es den Grundstein für die Erteilung des Status eines offiziellen Beitrittskandidaten, den die Türkei 1999 erhalten sollte. Doch die wechselseitigen Beziehungen waren und sind von Rückschlägen und zähen Verhandlungen geprägt.

Der Weg nach Europa

Ministerpräsident Ismet Inönü, der engste Weggefährte des Staatsgründers Mustafa Kemal (später mit dem Titel „Atatürk“ geehrt), führte die Türkei Richtung Europa. Besonders der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer forcierte einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Gemeinschaft. „Und eines Tages soll der letzte Schritt vollzogen werden – die Türkei soll vollberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein“, sagte Walter Hallstein (CDU), Adenauers Außenpolitischer Berater und erster Präsident der EWG anlässlich der Unterzeichnung des Abkommens. Adenauer ist in der Geschichte der bisher einzige deutsche Regierungschef, der einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union offen forderte. Das Ankara-Assoziierungsabkommen von 1963, in dem auch die Möglichkeit zum Anschluss an die Zollunion eröffnet wurde, kann im Grunde als Beginn für einen türkischen EU-Beitritt gesehen werden, da dieses Dokument die Grundlagen für alle später verabschiedeten Absichts- und Annäherungsprozesse darstellt. Ein „EWG-Blankoscheck“, wie es von Kritikern oft genannt wurde, stellt es bei weitem nicht dar: Die Geschichte der Türkei ist von Unruhen und Militärputschen geprägt, die die Verhandlungen über weitere Annäherungen immer wieder auf eine Probe stellten.

Zypernkonflikt

Als ebenfalls nicht unwichtiges Ereignis ist die Besetzung Nordzyperns durch türkische Streitkräfte unter dem kemalistischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit 1974 zu sehen. 1959 wurde der Türkei im so genannten „Londoner Garantievertrag“ zugestanden, als international anerkannte Garantiemacht für die große türkische Minderheit im Norden Zyperns zu agieren. Im Juli 1974 unterstützte die Militärregierung in Griechenland einen Putsch griechischer Offiziere auf der Insel, um Zypern an Griechenland anzuschließen. Dies war für die Türkei als Garantiemacht eine Provokation, und so entsandte Ministerpräsident Ecevit türkische Truppen, um den Norden Zyperns zu besetzen. Bis heute ist die „Türkische Republik Nordzypern“ international durch keinen Staat außer der Türkei nicht anerkannt. Der Zypern-Konflikt ist ein großes Hindernis im Fortkommen der Verhandlungen zwischen EU und Türkei, da die EU die Insel als einheitlichen Staat betrachtet.

Militärputsch 1980

Das Militär putschte sich ein drittes Mal 1980 an die Macht, der bisher prägendste Umsturz einer zivilen türkischen Regierung durch die Armee. Nach einer Übergangszeit gab die Militärregierung die Macht erneut an zivile Politiker ab. Es war die Regierung von Ministerpräsident Turgut Özal, der 1993 mutmaßlich durch die Vergiftung mit Strychnin und Polonium ermordet wurde, die 1987 erstmals einen offiziellen Antrag auf Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Gemeinschaft stellte. Der Antrag wurde jedoch 1989 abgelehnt.

Vollmitglied oder „privilegierte Partnerschaft“? Die EU und die Türkei

Als nach diversen Zusatzprotokollen und auf Grundlage des Assoziierungsabkommens von 1963 am 1. Januar 1996 die Türkei Mitglied der Europäischen Zollunion wurde, übrigens unter Tansu Çiller als bisher einzige Frau im Amt des Regierungschefs, galt für das Land europäisches Wirtschaftsrecht. Die türkischen Regierungen beklagten seit langer Zeit, dass sie in Brüssel kein Mitsprache- und Entscheidungsrecht bei multinationalen Prozessen hatten, obwohl sie Teile ihrer nationalen Souveränität an die Union abgaben. Aufgrund dieser Rechtslage sieht die Türkei sich ständig in den Verhandlungen als benachteiligte Partei.

Nach der Debatte in den 1990er-Jahren um die sogenannte Osterweiterung der EU, als deren Teil sich die Türkei verstand, wurde ihr 1999 der offizielle Status eines Beitrittskandidaten zugesprochen und 2004 beschloss die EU ebenfalls offizielle Gespräche mit der Türkei zu initiieren, die im Oktober 2005 aufgenommen wurde. Seitdem befindet sich die Türkei im Prozess des Beitritts nach den sogenannten Kopenhagener Kriterien.

Viele europäische und vor allem deutsche Politiker, insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel, forderten nie offen einen Beitritt der Türkei zur EU: Zu groß seien die demokratischen und wertepolitischen Defizite. Merkel sprach häufig von einer „privilegierten Partnerschaft“ anstelle einer Vollmitgliedschaft, also eine enge Kooperation auf Grundlage der Beitrittsverhandlungen.

Reformer und Anti-Reformer

Die neue türkische AKP-Regierung unter dem damaligen Minister- und heutigen Staatspräsidenten Recep T. Erdoğan präsentierte zu Beginn der Regierungszeit 2002 über die folgenden Jahre eine ganze Reihe an gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Reformen, um dem Ziel einer EU-Vollmitgliedschaft näherzukommen. So wurde die Todesstrafe und die Straffreiheit für Gendarmerie und Polizei abgeschafft, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Rechte der Presse gestärkt, die Wirtschaft wurde enorm angekurbelt und der Umgang mit der kurdischen Minderheit im Lande thematisiert. Doch die Verhandlungen gerieten zunehmend ins Stocken, als viele europäische Politiker in ihren Wahlkämpfen Stimmung gegen die Türkei und einen möglichen EU-Beitritt machten, so etwa auch der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy. Seine Regierung verhinderte 2007 die Aufnahme neuer Beitrittskapitel in den Bereichen der Wirtschafts- und Finanzpolitik.

2008 entging die regierende Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) von Recep Tayyip Erdoğan nur sehr knapp einem Verbot: Der dem Militär nahestehende Generalstaatsanwalt Yalçınkaya leitete das Verfahren gegen die Partei ein, weil die Armee eine Aushöhlung der säkularen und kemalistischen Grundordnung durch die AKP befürchtete. Die AKP-Regierung von Ministerpräsident Erdoğan trieb weiterhin sehr viele Reformen im Land voran mit der Unterstützung eines Großteiles der Bevölkerung. So entschied die türkische Bevölkerung in einem Verfassungsreferendum 2010 mit großer Mehrheit für zahlreiche Änderungen der seit 1982 vom Militär eingesetzt Verfassung, u.a. sahen die Abänderungen auch eine Einschränkung der Rechte des Militärs vor, was die EU im Zuge der Beitrittsverhandlungen durchaus positiv aufnahm.

In den Folgejahren geriet der Reformprozess jedoch weiter in zähes Fahrwasser, da aus Sicht der EU-Kommission die Regierung Erdoğan zunehmend autoritär agierte und spätestens während der Gezi-Proteste von 2013 auch offiziell gerügt wurde. Es drohte gar der Abbruch der Verhandlungen. Nachdem Erdoğan im August 2014 als erster direkt vom Volk gewählter Staatspräsident auch mehr und mehr das ihm eigentlich verwehrte tagespolitische Geschäft der Regierung übernahm, flammte die Debatte um die Zukunft der Beitrittsverhandlungen neu auf.

EU-Verhandlungen eiskalt: Kein Vorankommen der Gespräche

Nach dem versuchten Militärputsch im Juli 2016, setzte die türkische Regierung eine umfassende „Säuberung“, wie sie es nannte, in Gang, entließ zehntausende Lehrer, Arbeiter, Beamte, Richter, Polizisten, Soldaten und andere Staatsbedienstete und forcierte die Einführung eines Präsidialsystems zur Gewährleistung der staatlichen und gesellschaftlichen Sicherheit. Seit dem Putschversuch und spätestens seit der Annahme des Präsidialsystems durch die Bevölkerung in einem Referendum Mitte April 2017 liegen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei faktisch auf Eis. Im vergangenen Jahr empfahl das Europäische Parlament in einem viel beachteten Votum der EU-Kommission das Einfrieren der Gespräche.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nannte die in der Türkei debattierte Wiedereinführung der Todesstrafe die „roteste aller Linien“ und beschied, dass die Einführung „das endgültige Ende der Beitrittsverhandlungen darstellt.“

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