#standwithukraine, POLITIK

„Wir sind alle keine Helden.“

Redaktionssitzung von Novaya Gazeta

#standwithukraine – throwback moskau 2015

STATEMENTS
☛ „Ich fürchte jede Sekunde, aber das ist eine persönliche Entscheidung.“
☛ „Wer wenn nicht wir?“
☛ „Nur weil unser Internet frei ist, gehören wir noch nicht zu China und Nordkorea.“
☛ „Ich schäme mich sehr oft, dass dieser Mann der Präsident von meinem Land ist.“
☛ „Das politische Bewusstsein der Jugend hängt stark von der Erziehung ab.“

In Russland eine Zeitung zu finden, von der man mit Recht sagen kann, dass sie unabhängig und nicht staatlich gelenkt ist, ist schwer. In der Redaktion von Novaya Gazeta treffen wir Nadeschda, sie ist Redakteurin. Als sie von  den Anfängen der Zeitung berichtet erzählt sie: „Wenn wir vor 10 Jahren bei einer Behörde angerufen haben und gesagt haben Wir sind von der Novaya Gazeta [Neue Zeitung] wurde oft gefragt: Wir verstehen, dass die Zeitung ganz neu ist, aber wie heißt sie den jetzt?“ (Lachen) Nach 20 Jahren hat man keine Fragen mehr. Alle kennen die Neue Zeitung.“

Novaja Gazeta ist mittlerweile ein etabliertes Blatt, das dreimal pro Woche erscheint. Ihre Reporter berichten unabhängig und kritisch — das macht der Redaktion das Leben schwer. Die Finanzierung und Drohungen an Mitarbeiter sind ein ständiges Problem. An seiner Haltung hält das Team aber fest: „Die Zeitung kritisiert sehr oft die Macht und sagt dabei auch sehr unangenehme Dinge. Wir können aber nicht einfach die Augen schließen“, sagt Nadeschda.

Schon während des Ganges durch die Räume der Redaktion sprechen wir über die Art und Weise, wie der Staat in Russland die Medien beeinflusst. Im Konferenzraum, in dem das Interview stattfindet, hängen über uns die Porträts der sechs Redakteure, die in den letzten Jahren ermordet wurden, nachdem sie investigativ recherchierten und berichteten.


standpunkt: Haben die Mitarbeiter dieser Zeitung Angst vor weiteren Anschlägen?

Nadeschda: Ob die Mitarbeiter Angst haben oder nicht, kann man nicht sagen. Ich fürchte jede Sekunde, aber das ist eine persönliche Entscheidung. Zum Beispiel habe ich sehr lange und sehr eng mit einer der verstorbenen Mitarbeiterinnen zusammengearbeitet und mache weiter. Ein anderer Kollege hat aber den ganzen Kontakt abgebrochen, er konnte nicht mehr. Vielleicht ein Schuldgefühl, man weiß es nicht. Und es gibt auch Beispiele von jungen Journalisten, die sagen: „Wir wollen bei dieser Zeitung arbeiten wo Anna Politkowskaja gearbeitet hat. Wir wollen weiter machen!“
Es ist schrecklich sechs Kollegen zu verlieren. Hier arbeiten ganz normale Menschen. Hier ist niemand Held. Sie sind ganz normal, wie wir. Wir unterstützen uns gegenseitig.

Was motiviert dann jeden Tag weiterzumachen? Es wäre ja viel einfacher wenn man sagt man nimmt die Anzeigenkunden und kann viel Geld mit Werbung verdienen. Was motiviert einen auf dem richtigen Kurs zu bleiben und zu sagen „Ich mache aber trotzdem so weiter!“?

Wer wenn nicht wir? Wir haben uns vor 20 Jahren für eine Richtung entschieden und wir bleiben dieser Richtung treu. Man weiß nicht, ob alle Mitarbeiter für immer hier bleiben. Manche kommen und gehen, aber der Kern bleibt. Der Chefredakteur sagt, dass wir alle eine Blutgruppe haben. Das ist natürlich nur eine Metapher. Ich arbeite schon lange hier, habe viele Artikel geschrieben und das was ich weiß, was ich denke und was ich meine wird immer veröffentlicht. Es wird nicht gesagt: „Nein das ist zu hart oder zu kritisch geschrieben“. Natürlich kann man auch über das Showbusiness schreiben (haben wir auch nichts gegen), aber bestimmte Themen sind einfach wichtig und Informationen, die man hat, sollte man nicht verstecken. Es ist wichtig zu entscheiden, was die innere Stimme sagt und was man dann macht. Also ein Widerspruch zwischen den Gefühlen und den Taten. 
Warum diese Zeitung heute noch in Russland kritisieren darf? Der Kreml zerstört die Zeitung nicht, weil wenn heute jemand sagt „Es gibt keine Pressefreiheit in Russland!“ diese Zeitung vorgezeigt wird.

Gab es denn schonmal Material wo man dann gedacht hat das kann man nicht veröffentlichen, weil das tatsächlich zu gefährlich ist oder ist man da sehr strikt?

Wir haben eine Regel: Wir kämpfen nicht gegen Frauen und Kinder. Das ist die einzige Beschränkung. Wir hatten auch Materialien und Informationen zu Putins Kindern, aber das wird aus Prinzip nicht veröffentlicht. Wir überlegen uns immer was das Veröffentlichen der Artikel für Folgen hat. Wenn etwas nicht veröffentlicht werden soll, wird uns nicht gedroht, eher bekommen wir Geld geboten, damit der Artikel nicht erscheint. Darauf gehen wir natürlich nicht ein.

Wenn ich jetzt in Deutschland sitze und wissen möchte was grade in Russland passiert, welche englischsprachige Zeitung sollte ich dann lesen um eine Innenansicht zu bekommen? Welche Zeitung gibt einen ehrlichen Einblick?

Wenn alles gut läuft, gibt es die „Neue Zeitung“ bald auch auf Englisch im Internet. Bisher gibt es nur einen kleinen Teil in englischer Sprache. Natürlich ist es sehr schwer zu konkurrieren, denn Russia Today zum Beispiel hat sehr viel Geld und arbeiten eben dafür die Propaganda auch auf Englisch zu verbreiten.

In Russland liest man nicht so viel Zeitung man guckt eher TV. Egel wo man wohnt, es gibt immer einen Fernseher, das ist manchmal der einzige Weg, um an Nachrichten zu kommen. Alle Fernsehprogramme gehören dem Staat mit ein paar kleinen Ausnahmen. Ich glaube der Grund, warum Putin so beliebt und populär ist ist der, dass man nur in Großstädten das Internet mit dem TV konkurrieren kann, sonst wird alles über das TV vermittelt. Und weil das dem Staat gehört, wird dort sehr einseitig berichtet. Nur weil unser Internet frei ist, gehören wir noch nicht zu China und Nordkorea. Ich weis weiß freuen uns wahrscheinlich zu früh, denn die Gesetze werden immer schärfer. Es gibt eben ein Risiko.

Im Ausland haben wir oft das Gefühl das Putin sehr beliebt ist und viele Leute hinter ihm stehen was er tut. Wie stehen sie selber dazu?

Ich schäme mich sehr oft, dass dieser Mann der Präsident von meinem Land ist. Ich kenne ihn nicht persönlich, aber ich habe ihn ein paarmal gesehen. Bei der Analyse seines Verhaltens denke ich, dass er kein guter Mensch ist. Ein Mann, der so eine hohe Position in der Gesellschaft hat, könnte humanitärer und edelmütig sein und nicht so rachsüchtig. Alles hängt von seiner Entscheidung hab, von einem Mann. Er hat natürlich auch seine Assistenten, die ihn zu überzeugen versuchen, aber die Entscheidung trifft immer er selbst. Zurzeit gibt es einen Hungerstreik von einer russischen Flugpilotin und heute ist der 81. Tag; sie kann jede Minute sterben. Ich kann nicht verstehen, wie man sie nicht retten kann. Wenn eine Frau im Gefängnis stirbt, was kann man dazu sagen?! Das ist nicht der Fall, wenn das Gesetz das Wichtigste ist. Dieses Verhalten sagt mehr über Putin aus als all seine politischen Äußerungen. Seine Interessen und die Interessen seines engeren Umfeldes sind wichtiger als die Interessen von Russland.

Wie ist das politische Bewusstsein der jungen Leute?

Das hängt von der Erziehung ab. Es gibt verschiedene patriotische Vereine, die den Begriff Patriotismus missbrauchen. Es ist kein Geheimnis, dass viele Studenten zu den Demonstrationen für Putin gehen müssen, da sie, wenn sie nicht hingehen, keine Noten bekommen. Oder sie bekommen Geld, deshalb gehen sie hin. Aber zu den Gegendemonstrationen gehen die jugendlichen freiwillig.

Denken sie das das deutsche Klischee Bild wie wir den Russen die Russin sehen im groben entspricht?

Natürlich nicht. Das Klischee stimmt nicht überein. Die Frage ist schwer zu beantworten. Manche Vorurteile stimmen, manche nicht. Sie haben ja heute schon gesehen: Es laufen keine Bären auf den Straßen und im Café trinkt man keinen Wodka zum Frühstück. Junge Leute sind offener für die Außenwelt, sprechen fremde Sprachen und die Eltern. Ich sehe eine positive Entwicklung. Mehr zur Medienfreiheit in Russland hier.

Update: Eine Woche nach unserem Besuch erklärt die Chefredaktion der russischen Zeitung ihr drohendes Aus. Aufgrund wirtschaftlicher Engpässe könne es schon Ende Mai zur Einstellung der Druckausgabe kommen, heißt es in einer Mitteilung der Redaktion. Als unabhängige Zeitung muss „Novaja Gaseta“ seit Jahren mit staatlich finanzierten Medien konkurrieren.

 

Das Interview wurde am 4. März 2015 in Moskau geführt.